"Gehen, ging, gegangen"
von Jenny Erpenbeck
"Über das sprechen, was Zeit eigentlich ist,
kann er wahrscheinlich
am besten mit denen,
die aus ihr hinausgefallen sind."
kann er wahrscheinlich
am besten mit denen,
die aus ihr hinausgefallen sind."
Es bleibt in Erinnerung ...
... die Story
Richard ist kürzlich pensioniert worden und setzt sich grübelnd mit dem Begriff Zeit auseinander, denn davon hat er unversehens ganz viel. Als Professor für Alte Sprachen in Berlin erlebte er seinen Tagesablauf geregelt und erfüllt. Nun aber muss er "aufpassen, dass er nicht irre wird", da er sich ohne Aufgabe und Antrieb zu Hause einer gewissen Schwermütigkeit stellen muss.
Als er in der Stadt der Flüchtlinge aus Afrika gewahr wird, die auf dem Oranienplatz campieren, ist sein Interesse geweckt. Zunächst erstellt er professorenhaft einen Fragenkatalog, macht sich auf den Weg zu diesen Menschen und hofft auf Antworten, die ihm auch persönlich weiterhelfen. Genau wie er sind die Flüchtlinge aus der Zeit geworfen und er fühlt zu ihnen eine gewisse Nähe. Richard entwickelt sich darüber zu einem engagierten Helfer, der die Afrikaner zum Deutschunterricht und bei Behördengängen begleitet. Letztendlich nimmt er gar Flüchtlinge in seinem Haus auf.
Jenny Erpenbeck hat den Buchtitel gut gewählt, denn dieser umfasst viel: in erster Linie ist es natürlich die Konjugation des Verben "gehen" und damit ein wesentlicher Teil des Deutschunterrichts, aber er stellt auch direkt den Bezug zum Thema Zeit her. Die Flüchtlinge sind einen schweren Weg gegangen und wie geht es aktuell weiter, da sie größtenteils nur temporär in Deutschland geduldet sind? Richard ist in Rente gegangen und geht im Romanverlauf den absichtsvollen Weg hin zu neuen Aufgaben und Inhalten.
... ein Zitat
"Es ist jedenfalls so, dass Richard von jetzt an nicht mehr pünktlich aufstehen muss, um morgens im Institut zu erscheinen. Er hat jetzt einfach nur Zeit. Zeit, um zu reisen, sagt man. Zeit, um Bücher zu lesen. Proust. Dostojewski. Zeit, um Musik zu hören. Sein Kopf jedenfalls arbeitet noch, so wie immer. Was fängt er jetzt mit dem Kopf an?"
... was mich bewegt hat
Richard hat mich bewegt, dieser intelligente, leicht tölpelhafte eremitierte Professor, den Jenny Erpenbeck zunächst in ein etwas naives Licht stellt. Aber sie mag ihn und nimmt auch mich für ihn ein.
Und die Einzelschicksale unter den Flüchtlingen bewegen natürlich, wobei die Autorin uns an deren Geschichte teilhaben lässt, ohne dabei rührselig zu werden.
... die Sprache
Leicht und flüssig zu lesen, dabei ansprechend.
Der Roman setzt sich im Ganzen mit Sprache auseinander: auf der einen Seite der Professor für alte Sprachen, der gar Seneca, Ovid und Tacitus zu zitieren vermag, auf der anderen Seite der Deutschunterricht für die Flüchtlinge, in dem die Sprache zum simplen Lebenswerkzeug im fremden Land wird. Sprachlich also durchaus umschichtig und schön angepasst.
... ein Fazit
In diesem Roman steckt sehr viel: ein persönliches Anliegen Jenny Erpenbecks, ein hochaktuelles Thema und die bemerkenswerte Entwicklung eines Mannes. Für mich rund und lesenswert!
Jenny Erpenbeck ist selber in der Flüchtlingshilfe aktiv, hatte gar einen Flüchtling bei sich aufgenommen. Sie schickt Richard sozusagen in eigener Sache, Fragen zu formulieren und Antworten zu finden. Als Leser erfährt man viel über Begrifflichkeiten wie "Duldung" und "Aufenthaltsstatus".
Der Autorin wurde bereits vorgeworfen, ihr Roman wirke zu konstruiert. Das empfinde ich nicht so.
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