Dienstag, 18. September 2018


"Ein Baum wächst in Brooklyn"
von Betty Smith



"Du musst deinem Kind jeden Tag
 eine Seite aus einem guten Buch vorlesen."


Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Die elfjährige Francis lebt mit ihren Eltern und ihrem Bruder im von Armut gezeichneten Brooklyn. Im Hinterhof des Mietshauses der Familie Nolan wächst ein Baum aus dem Beton, der zum Sinnbild dafür wird, sich durchzukämpfen und ein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.
Katie Nolan erzieht ihre Kinder sehr streng, denn ihr Anliegen ist es, sie mögen mehr Bildung erfahren als sie selber. Dazu zählt auch, sie zum Lesen anzuhalten. Jeden Tag eine Seite in der Bibel und eine Seite Shakespeare lesen, mit dieser Vorgabe wachsen Francie und ihr Bruder Neeley auf. Francie wird tatsächlich zu einer euphorischen Leserin und Geschichtenschreiberin. In der Hauptsache verarbeitet sie so ihren Alltag im Armenmilieu und erweist sich dabei als aufmerksame Beobachterin. Mit Francies Augen blicken wir auf ihr schamvolles Leben und hoffen von Kapitel zu Kapitel, sie möge diesem entfliehen können.
In den Mittelpunkt rückt die innige Beziehung zu ihrem Vater Johnny. Vater und Tochter fühlen einander sehr verbunden, aber der ansonsten herzensgute Mann ist dem Alkohol verfallen und entzieht sich immer wieder Frau und Kindern.
Da er nur sporadisch als Kellner arbeitet, ist Katie gezwungen putzen zu gehen, um die Familie zu ernähren und auch die Kinder übernehmen nach der Schule kleine Jobs.

... ein Zitat

"Von da an gehörte ihr mit dem Lesen die Welt. Nie wieder würde sie einsam sein, nie mehr würden ihr vertraute Freundinnen fehlen. Die Bücher wurden ihre Freundinnen, und für jede Stimmung gab es eines. Es gab Gedichte für stille Kameradschaft. Es gab Abenteuer, wenn sie die stillen Stunden leid war ...
Meine Großeltern konnten weder lesen noch schreiben. Die vor ihnen konnten weder lesen noch schreiben. Die Schwester meiner Mutter kann weder lesen noch schreiben ...
Aber ich, Frances K. Nolan, bin jetzt am College. Hörst du das, Francie? Du bist am College!"

... was mich bewegt hat

Es bewegt der Zusammenhalt in dieser Familie und Francies abgöttische Liebe für ihren Vater.
Sehr berührt hat mich auch das "Nordpolspiel": Wenn wenig zu essen im Haus ist und das Geld fehlt, neues zu kaufen, spielt die Familie, sie säße bei Schneesturm in einer Höhle fest und müsste sich die letzten Lebensmittel gut einteilen ...

... die Sprache

Einfach und flüssig zu lesen, aber von sehr schöner Sprache, die mich oft hat innehalten lassen.

... ein Fazit

Für die sechshundert Seiten braucht man einen recht langen Leseatem, aber er lohnt sich für diese Lektüre.
Liebevoll gezeichnete Charaktere, zu denen auch der Vater zählt. Keine der Figuren ist unsympathisch, alle haben sie einfach nur ihre Probleme.



"Pierre und Jean" von Guy de Maupassant


" Sein Herz hungerte nach der letzten Gewissheit ..."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Die ungleichen Brüder Pierre und Jean haben ihre Studien in Paris abgeschlossen und kehren zu den Eltern nach Le Havre in die Normandie zurück. Sofort glimmt eine alte Rivalität wieder auf, denn Pierre, eher in sich gekehrt, neidete seinem Bruder schon immer dessen Frohsinn und Leichtigkeit. Als ein alter Freund der Familie alleine Jean zu seinem Erben erklärt und dieser dadurch zu viel Geld kommt, quält die Missgunst Pierre umso mehr. Seine Grübeleien führen zu der Erkenntnis, seine Mutter müsse sich damals auf eine Affaire mit dem Verstorbenen eingelassen haben und Jean sei aus dieser Liebschaft entstanden. Von nun an tobt dieser böse Verdacht in ihm und bereitet ihm unerträgliche Pein. Es drängt ihn, die Wahrheit herauszufinden.

... ein Zitat

"Aber heute konnte er nichts mehr sagen, er konnte Jean nicht sagen, dass er ihn nicht mehr für den Sohn ihres Vaters hielt. Jetzt hieß es an sich halten, diese Schande, kaum entdeckt, in sich begraben, diesen Flecken auf der Ehre allen- auch vor seinem Bruder, vor allem vor seinem Bruder- verbergen. Er pfiff jetzt auf die törichte Scheu vor der Meinung der Leute. Hätte nur die ganze Welt seine Mutter angeklagt, wenn er, nur er, er allein sie für unschuldig hätte halten können! Wie jetzt neben ihr leben?"

... was mich bewegt hat

Wie die widerstreitenden Gefühle in Pierre wüten. Lange versucht er, ihrer Herr zu werden, aber seine Qual macht sich schließlich Luft.

... die Sprache

Sowohl präzise und klar als auch auch sehr poetisch.

... ein Fazit

Wer klassische Dramen liebt, wird dieses Buch mögen. Ohne fulminante Zuspitzung, aber trotzdem spannend! Mir hat es gut gefallen.
Schönes, gut zur Lektüre passendes Cover ("Rocheforts Flucht" von Edouard Manet").

Samstag, 8. September 2018


"Sechs Koffer" von Maxim Biller




"Onkel Dima kommt heute von seiner großen Reise zurück."


Es bleibt in Erinnerung ...

...die Story

Ein großes Geheimnis lastet auf der jüdisch-russischen Familie des heute in Berlin lebenden Autors Maxim Biller. Sein Großvater wurde 1960 am Moskauer Flughafen festgenommen und noch im selben Jahr hingerichtet. Das Urteil lautete auf Schwarzmarkt- und Devisenhandel. Da auch Maxims Onkel Dima in die Geschäfte verwickelt und verhaftet worden war, aber freikam, lag der Verdacht nahe, Dima habe seinen Vater denunziert, um die eigene Haut zu retten. Doch Maxim Biller inszeniert ab diesem Punkt ein interessantes Verwirrspiel.
Alle Familienmitglieder packen irgendwann ihren Koffer und gehen in den Westen. Der Roman wirft in jeden dieser Koffer einen Blick und versucht, dem Verrat auf die Spur zu kommen. Sechs Kapitel, sechs Koffer, sechs Einblicke. Und jedes Mal wird ein anderer beschuldigt, den Großvater verraten zu haben.

Maxim Biller wächst im Laufe des Buches mit; während er im ersten Kapitel noch ein Junge von sechs Jahren ist, begegnet uns am Ende des Buches der Endfünfziger von heute. 

... ein Zitat

"Er drehte sich um, in der nur einen Spalt weit geöffneten Tür, stand ich in meinem neuen, noch viel zu großen, blau gestreiften Pyjama, den mir Onkel Wladimir aus Brasilien geschickt hatte. Ich sah für meine sechs Jahre oft viel zu erwachsen aus, so wie jetzt auch. Ich hatte dieses ernste, dunkle, fast orientalische Gesicht, das sie alle in der Familie hatten- sein Vater, den sie immer auf Jiddisch Tate genannt hatten, aber auch er selbst und seine drei Brüder Dima, Wladimir und Lev."

... was mich bewegt hat

Die Nähe zu seiner Schwester Elena, die ebenfalls ein Buch herausgebracht hat, das sich mit der Familiengeschichte befasst.

... die Sprache

In der Annahme, Maxim Biller erhebe sehr hohen Anspruch an Literatur, hatte ich sprachlich mehr Mondänität erwartet. 
Wir finden hier eine eher einfache klare Sprache. Ohne viel Schnörkel.

... ein Fazit

Lesenswert mit Einschränkung.

Im dritten Kapitel fragt sich der fünfzehnjährige Maxim an die zwanzig Mal, ob der junge Mann, den er in Zürich kennengelernt hat, nun Miloslav oder Jaroslav hieß. Warum? Um herauszustellen, wie unzuverlässig Erinnerungen sein können? 
Eingeräumt, es könnte sich hier um ein Stilmittel handeln, missfallen haben mir diese enervierenden Wiederholungen trotzdem.

Grundsätzlich aber ein gut konzipiertes Buch. Das Thema der mehrfachen Emigration, das vielsprachige Aufwachsen, die Frage nach Wurzeln und Heimat. Maxim Biller lässt den Teenager Maxim die Schullektüre "Flüchtlingsgespräche" von Brecht lesen. Das ist gut gemacht, da sich die Problematik "Auswanderung" in der Lektüre widerspiegelt.
Ein Geheimnis wird umkreist, das geschieht zugegebenermaßen sehr literarisch, spannend und unterhaltsam.
Auch wie der Autor mit der Erzählperspektive spielt, gefällt mir sehr gut. Es gibt sowohl die Sicht des Icherzählers, als auch die eines auktorialen Erzählers.
Der Autor hat es mit seinem Roman auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2018 geschafft. Ich denke, dass wir ihn auch auf der Shortlist finden werden.

Ein unsympathischer, an skandalöse Grenzen gehender Literaturkritiker, aber nach meiner Einschätzung kein schlechter Autor. Beurteilen kann ich nur dieses Werk von ihm, denn weitere habe ich nicht gelesen.


Sonntag, 2. September 2018


"Der weisse König" von György Dragomán



"Seit mindestens drei Jahren 
hatte ich keine Südfrüchte mehr gegessen, 
und so rannte auch ich, so schnell ich konnte ..."


Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Dzsátá ist elf Jahre alt und lebt mit seiner Mutter im Rumänien des Jahres 1986. Ceausescu ist noch an der Macht, ein Diktator der besonderen Härte. Seine Gewaltherrschaft spiegelt sich in Dzsátás Kinderwelt, selbst den Kindern begegnet überall nur Terror (zum Beispiel auch durch die Lehrer) und sie üben sie selber in brutalen Kriegsspielen aus.
Nachdem sein Vater verhaftet worden und in ein Arbeitslager gebracht worden ist, bleibt Dzsátá nur noch seine Mutter. Die Mutter-Sohn-Beziehung ist eine herzliche und das einzige, was dem Heranwachsenden Sicherheit gibt. 
Es ist die Sicht des Kindes, die den Roman so bemerkenswert macht. Dzsátá wird im Grunde ständig überfordert und seiner unbeschwerten Kindheit beraubt, aber er betrachtet die alltägliche Tragik mit so viel Naivität und fast schon Unbeschwertheit, dass der Leser trotz all der horrenden Zustände oft schmunzeln muss. Gelernt hat Dzsátá auf jeden Fall, dass man mit Gewalt alles in den Griff bekommt und so versucht er am Ende des Buches auf wahnwitzige Art und Weise seinen Vater aus den Händen der "Inneren Sicherheit" zu befreien. Ganz voller Zuversicht.

... ein Zitat

"Vater war schon seit einem halben Jahr nicht mehr bei uns, obwohl es geheißen hatte, dass er nur für eine Woche wegfahren würde, ans Meer, zu einer Forschungsstation, in einer äußerst dringlichen Angelegenheit, beim Abschied hatte er zu mir gesagt, wie leid es ihm tue, mich nicht mitnehmen zu können, denn das Meer biete jetzt, im Spätherbst, einen wirklich unvergesslichen Anblick, es sei viel wilder als im Sommer, werfe riesige gelbe Wellen, alles sei voll weißer Gischt, so weit das Auge reicht, macht nichts, hatte er versprochen, wenn er wieder nach Hause komme, werde er mich mitnehmen, um es mir zu zeigen ..."

... was mich bewegt hat

Dzsátás gefühlvoller Umgang mit seiner Mutter. Rundherum erlebt er nur Rohheit, aber seiner Mutter begegnet er zärtlich und mit viel Liebe.

... die Sprache

Sehr lange Sätze, denen man aber gut folgen kann. Zum Teil derbe Sprache, die einfach den Umständen geschuldet sind, in denen Dzsátá aufwächst. Dazwischen überrascht sie aber auch immer wieder mit Schönheit.

... ein Fazit

Ein ganz besonderes Buch, das den Leser nicht wieder loslässt. Ich war entsetzt und beglückt zugleich.