Dienstag, 23. Oktober 2018



"Kinder in der Weltliteratur"
Erzählungen



"Er berührte das Gesicht seiner Mutter 
und war erstaunt, wie unbeweglich sie da lag ..."


Es bleibt in Erinnerung ...

... was erzählt wird

Die in diesem Büchlein versammelten Geschichten lassen uns in offene Kinderseelen blicken. Die Autoren sind weit gefächert, haben aber einen gewissen Anspruch gemein. Dieser liegt vor allem in der Sprache, aber auch in der Dringlichkeit, mit der Kinderglück oder -schmerz betrachtet werden. Lesen können wir hier zum Beispiel Guy de Maupassant, Fjodor Dostojewski, Katherine Mansfield, Hans Christian Andersen und Theodor Storm. Eine sehr schöne Mischung, die verschiedene Kulturkreise berührt.
Stille, eindrückliche Erzählungen, die im Gedächtnis bleiben.

... ein Zitat

"Ich war auf meiner Bank ganz wie verzaubert; diese seltsamen Bewegungen, diese feinen oder schnarrenden Puppenstimmchen, die denn doch wirklich aus ihrem Munde kamen - es war ein unheimliches Leben in diesen kleinen Figuren, das gleichwohl meine Augen wie magnetisch auf sich zog ...
Meine Schularbeiten machte ich niemals besser als in jener Zeit, denn ich fühlte wohl, dass das Auge meines Vaters mich strenger als je überwachte und dass ich mir den Verkehr mit den Puppenspielerleuten nur um den Preis eines strengen Fleißes erhalten könne."

... was mich bewegt hat

Die Blicke in die Kinderseelen berühren sehr. Oft sind die Geschichten traurig, aber die Kinder stecken voller Zuversicht und Bemühen, was für sich zu verbessern.

... die Sprache

Durchweg von hohem Niveau. Oft poetisch fein. Sie hält das, was man sich von diesem erlesenen Büchlein verspricht.

... ein Fazit

Die Manesse- Bibliothek stellt leider ihr Design um. Dieses Buch gehört aber noch zu der alten Reihe, die ich sehr schätze. Ich mag es nicht nur gerne lesen, sondern auch besitzen und freue mich über das kleine Juwel in meinem Bücherregal.


Freitag, 19. Oktober 2018


"Es liegt in der Familie" von Michael Ondaatje



"Das ist die Farbe der Landschaft, 
das ist die Stille, die die Ehe meiner Eltern umringte."

Es bleibt in Erinnerung ...

... was erzählt wird

Michael Ondaatje hat die ersten elf Jahre seines Lebens in Sri Lanka verbracht, ging danach in England zur Schule und siedelte 1962 zum Studieren nach Kanada über, wo er auch heute noch lebt. Die Suche nach seinen Wurzeln ließ ihn zwei mehrmonatige Reisen nach Sri Lanka (früher Ceylon) unternehmen. Wie sehr ihn diese bewegten, hat er im vorliegenden Buch festgehalten. Entstanden ist eine Sammlung eindrücklicher Fragmente, die den Leser mitnehmen in die dichte, feuchte Welt des Regenwaldes und in eine Familie, die eher bizarr anmutet.
"Jede Erinnerung ein loser Faden", schreibt der Autor und greift all diese Fäden auf, um sie mit den Eindrücken von Augen- und Ohrenzeugen aus der damaligen Zeit zu verspinnen. Die Kapitel kreisen um die Großeltern, Eltern und Geschwister, größtenteils einnehmende Persönlichkeiten, die von Michael Ondaatje vorsichtig und liebevoll zurück ans Licht geholt werden. Besonders exzentrisch wird der Vater geschildert, ein eher zurückgezogener Genosse, der Bücher und Pflanzen liebte, den größten Halt aber im Alkohol suchte und die Familie damit sehr belastete.

... ein Zitat

"Ich hatte diese Reise bereits geplant. An ruhigen Nachmittagen breitete ich Karten auf dem Fußboden aus und erkundete mögliche Routen nach Ceylon. Doch erst bei dieser Party, in Gesellschaft meiner engsten Freunde, wurde mir klar, dass ich zurück zu der Familie reisen würde, der ich entstammte- zu jenen Verwandten aus der Generation meiner Eltern, die mir im Gedächtnis standen wie eingefrorene Figuren aus einer Oper ...
Mitte Dreißig wurde mir bewusst, dass ich an einer Kindheit vorbeigeglitten war, die ich ignoriert und nicht begriffen hatte."

... was mich bewegt hat

Michael Ondaatjes Annäherung an das, was mal gewesen ist. Sein zärtlicher Blick auf Vergangenes.

... die Sprache

Reich an Metaphern. Satte Bilder, sehr schön in Worte gepackt.

... ein Fazit

Sehr lesenswert.

Freitag, 5. Oktober 2018


"Der Tag, an dem 
mein Großvater ein Held war" 
von Paulus Hochgatterer




"So wäre es am ehesten gewesen."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Auf einem Bauernhof in der Nähe von Linz taucht 1944 ein stummes Mädchen auf und bleibt. Für die Bauersleute ist es eine Selbstverständlichkeit, die dreizehnjährige Waise mit Namen Nelli aufzunehmen, denn bei einem Bombardement verlor sie ihre Eltern und blieb verstört zurück. Mit viel Zuwendung gelingt es, das Vertrauen des Mädchens zu gewinnen und Nelli beginnt gar wieder zu reden.
Ein Jahr später gewährt die Familie auch einem jungen Russen mit Namen Michail Asyl.
Als sich Wehrmachtssoldaten auf dem Hof einquartieren, gerät sein Leben in Gefahr, denn er wird als geflüchteter Zwangsarbeiter entlarvt und soll erschossen werden. Bauer Jakob aber stellt sich den Besetzern mutig entgegen!
... oder hat Nelli sich das nur ausgedacht? Das junge Mädchen schreibt nämlich eifrig Geschichten und lügt auch schon mal, wie sie selber sagt.
Im letzten Kapitel wird dann die Möglichkeit einer anderen Entwicklung ersonnen, wobei sich auch hier ein Happy End abzeichnet. Aber ist es tatsächlich so gewesen?
Das löst sich nicht auf. Beide Versionen bleiben nebeneinander stehen. Jedes Mal geht es um den Mut einzuschreiten und ein Menschenleben zu retten. 

Der zweite Weltkrieg als Szenario, darin als Kleinod der Bauernhof und die flackernde Hoffnung, in diesem Krieg, wie auch in jedem anderen, möge es Menschen geben, die für andere aufstehen und was riskieren.

... ein Zitat

"Die Schwalben sind da. Manchmal verändert so etwas alles. Du stehst irgendwo, zum Beispiel vor dem Haus, und denkst nach oder betrachtest die Wolken wie an jedem Tag, und nach einer Weile merkst du, dass etwas anders ist ... Plötzlich weißt du es: Es sind die Schwalben, die zurück sind. Sonst ist heute alles wie gestern. Die jagenden Wolken, die Maulwurfshügel, die abgebrochenen Äste unter den Obstbäumen, der Kleiber, der vorne die Scheunenwand auf und ab läuft. Kleiber sind Glückstiere, sagt Laurenz, genau wie Kröten oder Igel oder Hirschkäfer."

... was mich bewegt hat

Bewegend ist die Bauersfamilie, die gleich zwei Geflüchteten ein Zuhause schenkt. 
Besonders berühren mich Nelli und Laurenz (der Bruder des Bauern), denn sie sind aufmerksame Beobachter ihres Umfelds, studieren Mensch und Natur gleichermaßen. Nelli als Icherzählerin schenkt der Erzählung einen immensen Charme.

... die Sprache

Eine ganz behutsame Sprache setzt hier schrecklichen Ereignissen etwas entgegen. In den Betrachtungen der dreizehnjährigen Nelli liegt ganz viel Poesie.

... ein Fazit

Das Buch wirkt fast etwas episodenhaft. Es tauchen Figuren auf, die nach einem Kapitel wieder verschwinden. Trotzdem scheint es mir rund, denn etwas zieht sich durch das ganze Buch: Menschen werden zu Helden. 
Man muss nur daran glauben. Und es erzählen. Oder aufschreiben, so wie Nelli es tut. 
In der Literatur ist soviel möglich. Mir gefällt das und ich möchte dieses Buch gerne weiter empfehlen.


Dienstag, 2. Oktober 2018


"Ein Winter auf Mallorca" von George Sand


"Mit welcher Poesie erfüllt seine Musik den heiligen Ort ..."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

George Sand sucht im Winter 1838 mit ihren Kindern Maurice und Solange, sowie ihrem Geliebten Frédéric Chopin, Zuflucht auf der spanischen Insel Mallorca. Zum einen möchten sie dem hektischen Paris entfliehen, zum anderen suchen sie das mildere spanische Klima aus gesundheitlichen Gründen auf. Sowohl George Sands Sohn Maurice, als auch Chopin kränkeln und brauchen Luftveränderung. Mallorca ist noch nicht wirklich auf Touristen eingestellt und es mangelt an Unterkünften. Mit etwas Glück kommt die kleine Reisegruppe schließlich in der Kartause von Valdemossa unter, wo ehemalige Mönchszellen bezogen werden können.
George Sand sieht sich als Reiseschriftstellerin und hat für den Leser recherchiert. Wir erfahren viel über Temperaturen, das Klima und die Architektur, sowie über Geschichtliches. Vor allem mit der Inquisition befasst sich die Autorin ausführlich.
Die Französin ist verzaubert von der mallorquinischen Landschaft, aber ansonsten missfällt ihr so einiges. Schnell gibt es auf den Seiten negative Anklänge, die der Insel etwas den Zauber nehmen. Genannt werden das "widerliche" Olivenöl, die Häuser "bar jeden Schmucks" und die wenig zugängliche Bevölkerung. Beidseitig begegnet man sich mit Skepsis und wenig Einfühlungsvermögen.
Als das Wetter im Winter umschlägt und es zu wochenlangen Regengüssen kommt, verlassen sie Mallorca fast fluchtartig und kehren nach Hause zurück. Chopins Gesundheitszustand hat sich auf der Insel eher verschlechtert als verbessert.

... ein Zitat

"Ich habe nie etwas Reizenderes und gleichzeitig Melancholischeres gesehen als diese Landschaft, wo Steineiche und Johannisbrotbaum, Pinie und Olivenbaum, Pappel und Zypresse die verschiedenen Farbtöne ihrer Blätter in tiefen Lauben vermischen, wahre Abgründe von Grün, und wo der Bach unter üppigem Buschwerk von unvergleichlicher Anmut hinabeilt."

... was mich bewegt hat

Mir gefällt die Begeisterung für die Landschaft und was diese in den Künstlern bewegt. George Sand schreibt des Nachts an ihren Romanen weiter und Frédéric Chopin vollendet seinen Zyklus der 24 Préludes.
Obendrein schmücken das Buch sehr schöne Zeichnungen und Lithographien. Der Maler J.B. Laurens hat sich sichtlich von Mallorca inspirieren lassen.

... die Sprache

Sehr poetisch und bildhaft.

... ein Fazit

Das Buch ist von sehr ansprechenden Äußeren, hat gar etwas Bibliophiles an sich. Wenn man es aufschlägt ist man gleichermaßen fasziniert. Sehr schön schwarz-weiß bebildert.

Missfallen haben mir George Sands anmaßende Äußerungen über die ländliche Bevölkerung auf Mallorca. Sie klingen sehr hochmütig und lassen wirkliches Interesse an der Kultur der Einheimischen vermissen.
Schade, denn ansonsten ist es wirklich ein feines Buch.