Montag, 14. März 2016

"Der Überläufer" von Siegfried Lenz


"Man muss die Kraft haben, einer Sache, der man zwanzig Jahre nachgelaufen ist, einen Fußtritt zu geben, wenn man einsieht, dass diese nicht nur falsch, sondern gemein, hinterhältig, gefährlich und mörderisch ist."


Dieses Buch ist eine kleine Sensation, denn bereits vor fünfundsechzig Jahren geschrieben, ist es jetzt erst vom Hoffmann und Campe Verlag herausgegeben worden. Der Verlag räumt ein, Siegfried Lenz damals die Veröffentlichung verweigert zu haben, da das politische Klima es verbot. Zu brisant schien die Thematik des Überlaufens von der deutschen Wehrmacht zur Roten Armee.

Im Roman ist es Walter Proska, fünfunddreißig Jahre alt, der beschließt die Fronten zu wechseln. Zunächst ist er einer kleinen Einheit zugehörig, die im Wald verschanzt regelmäßig ihre Soldaten auf Patrouille schickt, um eine Bahnlinie zu bewachen. Die Lage scheint schier aussichtslos, die Befehle des vorstehenden Kommandanten werden zu Hohn und Willkür. Einige der Kameraden kommen in der aberwitzigen Raserei zu Tode, andere enden im Wahnsinn. Walter freundet sich mit dem Studenten Wolfgang an. "Ich weiß, du hast gelehrte Läuse im Kopf", flüstert er beeindruckt und lauscht Wolfgangs Worten, die falsche Vaterlandsliebe an den Pranger stellen und "aktiven Pazifismus" beschwören. Besser sei man "ein Überläufer, ein Schwein, ein Verräter" als ein Soldat ohne Selbstachtung. Erst wenn man den Wahn des "Deutschen Hochmuts" bekämpft, kann man sich auf der Seite der Gerechten wiederfinden.

Diese Worte, die Proskas Kamerad spricht und die Proska schließlich bewegen, tatsächlich ins Lager der Partisanen zu wechseln, machen offensichtlich, warum der Hoffmann und Campe Verlag 1951 Bedenken äußerte und Siegfried Lenz' Vorlage nicht druckte. Im Anhang des nun erschienenen Buches veröffentlicht der Verlag den damaligen Schriftwechsel mit dem Autoren Lenz, um dem Leser nichts vorzuenthalten.
Diese Umstände haben sicher viele neugierige Leser auf den Plan gerufen, denn es ist beachtlich, wie rasch die Verkaufszahlen dem Roman Platz eins auf der Spiegelbestsellerliste beschert haben. In meiner Jugend verschlang ich einige Werke (allen voran natürlich "Die Deutschstunde") dieses großen deutschen Schriftsteller der Nachkriegsliteratur. Ob durch die Pressemitteilungen vielleicht jetzt auch jüngere Leser auf ihn aufmerksam geworden sind? Das würde die nun bereits dritte Auflage erklären. 

Siegfried Lenz verarbeitet in seinem Antikriegsroman höchstwahrscheinlich eigene Erlebnisse, denn kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs desertierte der Autor in Dänemark aus der Marine.

Mit der Figur des Walter Proskas schafft er einen sympathischen nachdenklichen Protagonisten, der in der ohnehin recht schrulligen Wehrmachtseinheit gar etwas burlesk rüberkommt. Beängstigende Szenen sind so lapidar-derbe und zynisch-mitleidslos geschildert, dass der Leser etwas Abstand nehmen kann zu dem Unvorstellbarem. 
Nichtsdestotrotz ist natürlich die Not des Proskas präsent, der die Waffe auf den Feind richtet und abdrückt, um selber zu überleben.

"Aber ich bin hier; und es ist Krieg und wir beide, du und ich, haben uns danach zu richten. Wir haben dem Krieg zu gehorchen, auch wenn wir ihn hassen wie die Pest. Schließlich möchten wir ja beide leben, du und ich, und wer im Krieg leben bleiben will, hat an nichts anderes zu denken als an sein Blut." 

Ganz großen Kummer verspürt er, als ein Mensch, der ihm nahe steht, durch seine Hand zu Tode kommt.

Der Roman schenkt uns auch eine Liebesgeschichte, die im tröstenden Kontrast zum geschilderten Grauen steht. Proska lernt die Partisanin Wanda kennen und lieben. Es bleibt die Frage, ob Wanda den Krieg überlebt und die beiden sich wiedersehen. Wanda trägt sein Kind unter ihrem Herzen ...

Sprachlich haben mir vor allem die Gemüts- und Landschaftsbeschreibungen gefallen. Proska schaltet im Anblick der Natur ab, genießt Stille und Zurückgezogenheit. Derweil lauert der Feind hinter dem Kadick ...
"Kadick" war mir gänzlich unbekannt ... Für die Leser, denen es genauso geht: es handelt sich um Wacholder!


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