Samstag, 17. Februar 2018

"Kinderjahre" von Jona Oberski


"Sieh mal, jetzt hast du genauso einen
 schönen Stern wie Papa."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Jona Oberski als Kind in den Konzentrationslagern Westerbork und Bergen-Belsen ... Ein ganz persönliches Zeitzeugnis, das sich der Autor von der Seele schreiben musste. Doch er tat das nicht nur zur Aufarbeitung, sondern auch als ausgesprochenen Dank an seine niederländischen Pflegeeltern, die ihn damals nach dem Holocaust aufnahmen.
Ein bewegendes Buch, das für mich still daherkommt. Schlimmstes Grauen wird in einfache Sätze gepackt, der Versuch, die Verstörung knapp zu halten. Aber die Sätze platzen fast, so sehr tragen sie an der Last.
Das Kind erzählt von überfüllten Güterwaggons und Soldaten mit Gewehren, dem düsteren Lagerleben und begreift erst spät, dass es sich beim Wort Tropenhaus nur einfach verhört hat ...
Totenhaus ... so lautet es, sagt die Mutter.

... ein Zitat

"Hab keine Angst, es ist alles gut, ich bin bei dir.
Die Hand, die sich auf meine Wange legte, war die meiner Mutter. Ihr Gesicht war nah bei meinem. Ich konnte sie kaum sehen. Sie flüsterte und streichelte mir über den Kopf. Es roch fremd. Es klang, als wären noch mehr Leute da. Mutter hob meinen Kopf und schob ihren Arm darunter. Sie drückte mich an sich und gab mir einen Kuss auf die Wange.
Ich fragte, wo mein Vater sei."

... was mich bewegt hat

All das Verstörende, das ein Kind nicht begreifen kann. Und wie es sich an Vater und Mutter klammert, diese kleine Welt der Familie, die für ihn Sicherheit bedeutet.
Die großen Suppenkessel, aus denen die Kinder sich die Reste kratzen dürfen.

... die Sprache

Kurze Sätze aus dem Kindermund. Passend. 

... ein Fazit

Hundertfünfzig Seiten, für die sich jeder die Zeit nehmen kann. Meines Erachtens ist der Roman als Schullektüre sehr gut geeignet. Zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt wurde er 1980.

"Das Genie" von Klaus Cäsar Zehrer



"Es genügte, wenn er sein Kostbarstes, 
seine Intelligenz, künftig besser beschützte,
 so wie andere ihre Juwelen."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Dieses Genie hat es wirklich gegeben. William James Sidis wurde am 1. April 1898 in New York geboren und erlangte als Wunderkind und Exzentriker große Bekanntheit in den Vereinigten Staaten. Klaus Cäsar Zehrer erzählt seine Lebensgeschichte und beleuchtet alle Facetten eines solchen Lebens im Fokus des öffentlichen Interesses. Bekannt wurde William Sidis, als er mit elf Jahren sein Studium an der Harvard University begann. Ein Sonderprogramm machte es damals möglich.
Der Roman von Klaus Cäsar Zehrer aber setzt viel früher an, geht zurück auf Williams Eltern, zwei ehrgeizigen Einwanderern aus der Ukraine, und lässt uns erfahren, wie die Idee des Ehepaars Sidis, aus William mit Hilfe einer besonderen Erziehungsmethode ein Genie zu machen, überhaupt geboren wurde. William wächst dann extrem gefördert und tatsächlich glücklich auf. Der Vater scheint recht zu behalten damit, dass die "geistige Kapazität" von Kindern zu vervielfachen ist, wenn man die ersten aufnahmefähigen Jahre dafür nutzt, Spielen und Lernen versäumnislos zu verknüpfen und dass Kinder davon ausschließlich positiv profitieren.
Die Probleme beginnen im Grundschulalter, als William eine Klasse nach der anderen überspringt und wie ein "Fremdkörper in ihrer Gemeinschaft" keine Freundschaften zu schließen vermag. Noch nicht mal ein "Lehrerliebling" ist er, denn dafür kommt er zu altklug rüber.
Hochinteressant zeigt sich seine Weiterentwicklung, denn alleine geistig ausgerichtet, gehen ihm wesentliche Tugenden gänzlich ab. Emotional gestört ist er nicht fähig, Beziehungen zu pflegen. Außerdem lässt er es an Manieren und an Anstand fehlen und meistert einfachste Alltagssituationen nicht. Man möchte meinen, dass ihm vielleicht alleine die ausgesprochene Intelligenz ein zukunftsorientiertes erfolgreiches Leben ermöglichen kann, aber dem ist eben nicht so. Lebenskunst erfordert mehr und das liest sich sehr einnehmend und atemberaubend in diesem tollen Buch.
Schließlich ist es gar seine Intelligenz, die ihn unglücklich enden lässt, denn er muss befürchten, sie könne wissenschaftlich missbraucht werden und dem "obszönen Gemetzel des Krieges" dienen.
Die Geschichte eines Sonderlings, der zwangsläufig scheitern muss.

... ein Zitat

"Boris gab auf. Er konnte es nicht. Nun war es also passiert, William hatte ihn geistig überflügelt. Das war das übliche Elternschicksal, irgendwann bekam man vom eigenen Nachwuchs seine Grenzen aufgezeigt, und so sollte es ja auch sein. Nur wenn die jeweils jüngere Generation der älteren über den Kopf wuchs, konnte der Fortschritt seinen Lauf nehmen. Dagegen hatte Boris nichts einzuwenden. Es gab ihm lediglich zu denken, dass der Zeitpunkt der Übergabe schon so früh kam. Dass er mit einem achtjährigen Kind nicht mehr mithalten konnte."

... was mich bewegt hat

Der unbeholfene und lebensuntüchtige erwachsene William. Emotional verarmt.
Wie er die Liebe erfährt und nicht wiedergeliebt wird.

... die Sprache

Chronologisches Erzählen ermüdet gerne den Leser. Hier gelingt es dem Autoren jedoch, den Leser sprachlich und inhaltlich kontinuierlich zu fesseln. Das über immerhin 640 Seiten.

... ein Fazit

Sehr lesenswert!



Montag, 5. Februar 2018

"Das deutsche Krokodil" von Ijoma Mangold


"Trotzdem war mein Leben, 
seit ich meinen Vater kennengelernt 
und nach Aba gereist warein anderes geworden."


Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Ijoma Mangold wächst alleine mit seiner Mutter im Heidelberg der siebziger und achtziger Jahre auf. Nichts möchte er weniger als auffallen und ist daher stets bemüht, sich bestmöglich anzupassen.
Unangenehm sind ihm seine krausen Haare und sein fremdklingender Vorname, die eklatante "Exotik", die jedem ins Auge springen muss. Und ohne Vater aufwachsen zu müssen, empfindet er als Makel, eine Lücke, die er öfters erklären muss.
Seine Mutter aber schenkt ihm viel Liebe und stärkt sein Selbstbewusstsein. Eine beeindruckende Frau, die es schafft, ihr Kind zu fördern, obwohl sie in eher "bescheidenen Verhältnissen" leben. Ijoma lernt schnell, ohne einen Vater zurechtzukommen. Von Vermissen kann nicht die Rede sein.
Er erweist sich als fleißiger Schüler und besucht gar ein Elitegymnasium. In der Schule fühlt Ijoma sich gut angenommen, ganz so, als hätte er gar keine "fremdländische Aura". Von den Altersgenossen trennt ihn eher seine ausgesprochene Neigung zu Literatur und klassischer Musik, eine Leidenschaft, die die Kameraden nicht mit ihm teilen und die ihn etwas isoliert.
Als sein afrikanischer Vater nach zweiundzwanzig Jahren in sein Leben tritt, empfindet Ijoma es als eine zu späte "Besetzung der Vaterrolle". Gefühlsmäßig hält er den Vater auf Distanz und folgt auch der Einladung nach Nigeria eher widerwillig. Die Kultur bleibt ihm fremd und der Anschein, der Vater wolle ihn als Erben nach Afrika holen, irritiert ihn sehr. Weitere Einladungen ignoriert er daraufhin.
Jahre später bereut er seine Distanziertheit, analysiert sie als "Verdrängung".
Nach dem Tod seines Vaters intensiviert er den Kontakt zu seinen afrikanischen Geschwistern.

... ein Zitat

"Sozialisation, nicht Genetik, so empfand ich es, hatten mich zu dem gemacht, der ich war; die Liebe meiner Mutter, nicht der Samen meines Vaters; indem er sich aufs Blut berief, missachtete er in gewisser Weise meine persönliche Geschichte.
Ich hatte noch nicht einmal am Telefon mit ihm gesprochen, da führte ich innerlich schon eine Auseinandersetzung mit ihm. Nun spielte allerdings die Frage, wie ich den Brief meines Vaters innerlich aufnahm, für meine Handlungen im Grunde keine Rolle ... es war völlig klar, dass ich die ausgestreckte Hand ergreifen würde ... und außerdem ließ meine Mutter keinen Zweifel daran aufkommen, was sie von mir erwartete: Es hatte sich nun alles gefügt, endlich würde ich meinen wunderbaren Vater kennenlernen."

... was mich bewegt hat

"Zwei intensive Monate" bleiben Ijoma, um sich von seiner Mutter zu verabschieden, als diese die Diagnose Krebs erhält. Ijoma nimmt sie in seiner Berliner Wohnung auf. Auf dem Sterbelager liest er ihr Fontane vor, da sie Fontane liebte. In der zweiten Strophe von "Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Haveland" macht sie "ihren letzten, rasselnden Atemzug" ...

Seine Fürsorge und Liebe haben mich sehr bewegt.


... die Sprache

Der Literaturkritiker Ijoma Mangold bedient sich in seinem Buch einer sehr gut verständlichen, fließenden Sprache. Natürlich weiß er gekonnt zu formulieren, aber es geht ihm nicht darum, besonders intellektuell rüberzukommen.

... ein Fazit

Wir haben hier Einblick in eine sehr interessante, außergewöhnliche Familie. Ijoma Mangold hat wirklich was zu erzählen und ich bin froh, dass er es getan hat.

Sonntag, 28. Januar 2018

"Kirchberg" von "Verena Boos"




"Sie geht in den Garten und spinnt Gedanken, wie sie dieses Haus eins ums andere wieder zum Leben erwecken wird."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Einst hat es Hanna aus dem betulichen erzkonservativen Ort im Schwarzwald in die große spannende Welt getrieben. Nun kehrt sie mit der Sehnsucht an den Kirchberg zurück, dort wieder Ruhe im Vertrauten und Verlässlichen zu finden. Nach einem Schlaganfall sind bei ihr wichtige motorische Funktionen gestört und ihr Sprachvermögen verharrt in einer Art "Dunkelkammer". Es drängt sie zum einen in die Isolation- der Versuch, sich zu verkriechen-, aber im Stillen hofft sie auch auf heimische Obhut und Hilfe. Tatsächlich funktioniert das soziale Netz noch und man nimmt sich ihrer an. Vor allem Patrizio, der gleichaltrige Jugendfreund, ist zur Stelle und ein liebevoller Kamerad in schwerer Zeit.
Hanna ist im Haus ihrer Großeltern groß geworden, hat dort viel Liebe erfahren und wurde gar von ihnen adoptiert. 
In Rückblenden erfährt der Leser die Umstände dieser elterlichen Leerstelle in Hannas Leben. Hanna erinnert sich ihrer Kindheit und Jugend in extra eingefügten Kapiteln, die aber erzähltechnisch geschickt einen Bogen zur Gegenwart schlagen.
Verena Boos hat einen Roman über Heimat und Verwurzelung geschrieben, aber auch über Verletzung und Flucht. Das alte Haus am Kirchberg mit dem Schulzimmer im Erdgeschoss ist der Dreh- und Angelpunkt und beseelt die Erzählung. Wir lesen von der "Aura einer Trutzburg", von Holzdielen, die noch "die Abdrücke der Schulbänke" tragen und von dem Blick durch die langgezogene Fensterreihe auf Bach, Mühle und die alte Linde. 
Heimat findet sich auch in Musik, Sprache und Literatur. Patrizio spielt mit Vorliebe auf dem Klavier im alten Schulzimmer und möchte Hanna "anstupsen" mit seinen "wiegenden Akkorden".
Hanna liest immer wieder im Englischen Patienten und zieht Parallelen zu ihrem eigenen Leben.

... ein Zitat

"Eine mächtige Treppe führt auf den Kirchberg, zu dieser Kirche aus rotem Sandstein, die zu groß über allem thront und ein so kleines Dorf überfordert. Langsam steigt sie diese Treppe hinauf, schräg über die Stufen, das kommt ihrem schwachen Bein entgegen. Sie lehnt sich an die Balustrade. Drei Täler öffnen sich für drei Bachläufe, und hier, mit dem spitzen Helm des Kirchturms als Drehgelenk ihres Kompasses, ist sie genau in der Mitte. Sie streckt die Arme nach beiden Seiten aus und füllt ihre Lungen mit der Luft ihrer Kindheit."

... was mich bewegt hat

Das große leere Schulhaus, das wieder gefüllt wird. Hanna, die sich dort wieder verortet. Das zur Ruhe Kommen, ihre Introspektion und ihr Versuch, sich nach dem Schlaganfall weiterhin verständlich zu machen. 
Sehr eindrücklich. Und wunderbar verbunden mit diesem alten Haus auf dem Kirchberg. 
Bewegende, unvergessene Bilder.

... die Sprache

Außergewöhnlich schön. Sie fängt Stimmungen und Verstimmungen ein und begeistert mich ob ihrer Zartheit und den treffenden Bildern.

... ein Fazit

Sehr lesenswert. Schön aufgebaut und sprachlich ein Schätzchen.

Sonntag, 21. Januar 2018

"Wem erzähle ich das?" von Ali Smith


"Dass jemand dich so gut kennt, 
ist ein unvorstellbares Geschenk."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Eine große Liebe steckt zwischen diesen Buchdeckeln. Zwei Frauen nahmen sich eine gemeinsame Wohnung und gaben sich "das größte Versprechen überhaupt": Sie führten ihre Bücher in einer Bibliothek zusammen ...
So in etwa beginnt dieses Buch und fesselt mich auf der Stelle.
Das gemeinsame Leben endet schon nach etwa einem Jahr, da die Geliebte stirbt. Zurück bleibt die stark trauernde Icherzählerin. Sie, die im ersten Trauerjahr kein Buch in die Hand nehmen konnte (zu schmerzlich waren die Erinnerungen), zieht aus dem Regal "Oliver Twist" und fängt im Lesesessel der verstorbenen Freundin an, darin zu lesen.
Sie sucht den Dialog mit der Geliebten (die immer wieder als eine Art Geist in der gemeinsamen Wohnung auftaucht) und sucht Zuflucht in diesen Zwiegesprächen, sowie in Reflektionen über Literatur, Kunst, Musik und Film und den hohen Wert derselben für unser Leben. Philosophische Ausführungen beleuchten den Halt, den wir durch die Literatur erfahren, geborgen in Form, Rhythmus und Melodie eines Textes, sobald das Geschriebene für uns "zur Wohnstatt" wird.
Ali Smith lässt viele Zitate einfließen und ich merke, wie sehr sie in literarischen Texten zu Hause ist.
Die Autorin hat als Literaturdozentin gearbeitet und eine Reihe von Vorlesungen schenken den Kapiteln in diesem Buch ihre Überschriften, seien da zum Beispiel "Zeit" und "Angebot und Widerspiegelung".
Eine Liebeserklärung an die Freundin, sowie an Kunst und Literatur.

... ein Zitat

"Wir kämen nicht auf die Idee, dass wir ein Musikstück bereits beim ersten Hören verstehen, glauben bei einem Buch aber nur zu gern, wir hätten es gelesen, wenn wir einmal damit durch sind. In puncto Nachhall haben Bücher und Musik mehr gemeinsam als die für die unmittelbare Gegenwart geltende Entsprechung von gehörtem Ton und gelesenem Wort. Bücher brauchen Zeit, um sich uns nach und nach zu erschließen ...
Große Bücher sind anpassungsfähig; sie verändern sich mit uns, wenn sich unser Leben verändert, sie erneuern sich, wenn wir andere werden und sie zu verschiedenen Zeiten unseres Lebens noch einmal lesen."

... was mich bewegt hat

Das Mutmachende. Stets bleibt die Liebe und immer können wir Trost in Zeilen, Versen und Bildern finden.

... die Sprache

Anspruchsvoll und poetisch.

... ein Fazit

Keine Empfehlung für jedermann. Man muss sich einlassen können auf einen Roman, der sich was erarbeiten möchte: Wie lebe und lese ich, um mich zu stärken gegen Unheil und Leid.





"Wo Frauen ihre Bücher schreiben" 
von Tania Schlie


"Ab und zu stellte Virginia Woolf ihren Schreibtisch um, 
um den Ausblick aus einem anderen Fenster zu haben."

Es bleibt in Erinnerung ...

... ein eindrucksvolles Buch

Es lebt von den Fotos und der Gesamtgestaltung. Stets wieder mag man es durchblättern und sich in die Schreibwelten der Autorinnen einfühlen. Mit einfließen lässt Tania Schlie interessante Details.
In Nicole Krauss beeindruckendem Roman "Das große Haus" zum Beispiel spielt ein alter Schreibtisch eine besondere Rolle und wir erfahren, dass dieser doch tatsächlich in ihrem Haus in Brooklyn steht und sie zu ihrem Werk inspiriert hat.
Wir lernen hier also "Umgebung, in der Literatur entsteht" kennen.Tania Schlie lässt uns in die Schreibstuben der Autorinnen blicken. Und ein wenig weiter. Spannend fand ich auch die unterschiedlichen Tageszeiten, zu denen die Schreiberinnen zur Hochform aufliefen, bzw. noch auflaufen. So schreibt Toni Morrison zum Beispiel mit Vorliebe vor dem Sonnenaufgang.

... ein Zitat

"In allen Fällen, belebt oder unbelebt, geben uns diese Momentaufnahmen dennoch einen Eindruck von der jeweiligen Schreiberin. An den Dingen, mit denen sie sich umgibt, an der Atmosphäre eines Schreibtisches können wir ablesen, in was für Arbeits- und Lebenswelten sich die Schriftstellerin bewegt ... Genau das ist das Ansinnen dieses Buches: ausgehend von den Wohn- und Arbeitsräumen einer Dichterin ihre Bücher und die Lebenswelten nachzuzeichnen."

... was mich bewegt hat

Die Verbundenheit mit dem Möbelstück Schreibtisch, das eben mehr ist als das. 
Ich werde mich immer an Elke Heidenreichs Worte erinnern, Freunde seien willkommen, dürften in ihrem Haus übernachten, sich Klamotten leihen und in ihrer Küche kochen, aber der Schreibtisch sei allein ihrer. 
Also ein ganz intimer Ort.

... die Sprache

Die Sprache in diesem Buch lebt von der Einzigartigkeit der Autorinnen, die vorgestellt werden. Ist Tania Schlie selber "gepackt", schreibt sie zauberhaft. Etwas aufzählend kommt es rüber, wenn sie einfach nur wiedergibt, was auf den Fotos zu sehen ist.

... ein Fazit

Man muss dieses Buch nicht von vorne nach hinten durchlesen. Man sollte es vielmehr auf sich wirken lassen und vor allem die Fotos wertschätzen. So rutscht man hier und dort in die Zeilen und liest ausgewählt. 
Wunderbar gestaltet. Ansprechend in Cover, Aufmachung, Seitengestaltung und Haptik.

Samstag, 20. Januar 2018


"Am Beispiel meines Bruders" von Uwe Timm



"Der tapfere Junge hatte sich freiwillig zu einer Eliteeinheit gemeldet."


Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Uwe Timm hat ein sehr persönliches Buch geschrieben, in dem er einen Teil seiner eigenen Familiengeschichte aufarbeitet. Gerade mal drei Jahre alt verliert er seinen Bruder an die Waffen-SS. Karl-Heinz hatte sich ein Jahr zuvor freiwillig zum Dienst in ihr gemeldet und kommt in der Ukraine nach einer schweren Verletzung zu Tode.
Die Familie muss fortan mit dieser Lücke leben. Uwe Timm selber sind wenig Erinnerungen an den Bruder geblieben, die Eltern aber stellen ihn auf einen Sockel. Das Vorbild. Karl-Heinz thront über allem und darf sich mit den Attributen Mut,Tapferkeit und Gehorsam schmücken. Uwe wird in seinen Schatten gestellt. Der Vater ist sich gewissermaßen selbst ausgeliefert, gibt sich dem Gram und der Verbitterung hin.
Erst sechzig Jahre nach dem Tod seines Bruders gelingt Uwe Timm die Auseinandersetzung mit der Familienkonstellation von damals. Bemüht milde ist ihm daran gelegen, die Beziehung zu seinem Vater aufzuarbeiten, der damals "innerlich wund" gewesen ist und Uwe nicht gerecht begegnen konnte. Dispute und ein Unvermögen gegenseitiger Akzeptanz prägten die Vater-Sohn-Beziehung.

... ein Zitat

"Abwesend und doch anwesend hat er mich durch meine Kindheit begleitet, in der Trauer der Mutter, den Zweifeln des Vaters, den Andeutungen zwischen den Eltern. Von ihm wurde erzählt, das waren kleine, immer ähnliche Situationen, die ihn als mutig und anständig auswiesen. Auch wenn nicht von ihm die Rede war, war er doch gegenwärtig ..."

... was mich bewegt hat

Uwe Timms Annäherung an den Vater, der Wunsch, zu verstehen und zu vergeben. Und die Liebe zur Mutter, für die er zärtliche Worte findet. Sehr bewegend.

... die Sprache

Uwe Timms Aufarbeitung liest sich nicht fortlaufend, sondern eher bruchstückhaft. So wie die Erinnerungen kommen ... Oft kurze Sätze, vielleicht schnell notiert, bevor die Erinnerung wieder versagt.

... ein Fazit

Sehr lesenswert. Wesentlich auch die Beleuchtung der damaligen politischen Orientierung. Der Idealismus dieser Zeit und wie die Generation damit umging.

Uwe Timm
auf der Buchmesse Frankfurt 2017