Sonntag, 28. Januar 2018

"Kirchberg" von "Verena Boos"




"Sie geht in den Garten und spinnt Gedanken, wie sie dieses Haus eins ums andere wieder zum Leben erwecken wird."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Einst hat es Hanna aus dem betulichen erzkonservativen Ort im Schwarzwald in die große spannende Welt getrieben. Nun kehrt sie mit der Sehnsucht an den Kirchberg zurück, dort wieder Ruhe im Vertrauten und Verlässlichen zu finden. Nach einem Schlaganfall sind bei ihr wichtige motorische Funktionen gestört und ihr Sprachvermögen verharrt in einer Art "Dunkelkammer". Es drängt sie zum einen in die Isolation- der Versuch, sich zu verkriechen-, aber im Stillen hofft sie auch auf heimische Obhut und Hilfe. Tatsächlich funktioniert das soziale Netz noch und man nimmt sich ihrer an. Vor allem Patrizio, der gleichaltrige Jugendfreund, ist zur Stelle und ein liebevoller Kamerad in schwerer Zeit.
Hanna ist im Haus ihrer Großeltern groß geworden, hat dort viel Liebe erfahren und wurde gar von ihnen adoptiert. 
In Rückblenden erfährt der Leser die Umstände dieser elterlichen Leerstelle in Hannas Leben. Hanna erinnert sich ihrer Kindheit und Jugend in extra eingefügten Kapiteln, die aber erzähltechnisch geschickt einen Bogen zur Gegenwart schlagen.
Verena Boos hat einen Roman über Heimat und Verwurzelung geschrieben, aber auch über Verletzung und Flucht. Das alte Haus am Kirchberg mit dem Schulzimmer im Erdgeschoss ist der Dreh- und Angelpunkt und beseelt die Erzählung. Wir lesen von der "Aura einer Trutzburg", von Holzdielen, die noch "die Abdrücke der Schulbänke" tragen und von dem Blick durch die langgezogene Fensterreihe auf Bach, Mühle und die alte Linde. 
Heimat findet sich auch in Musik, Sprache und Literatur. Patrizio spielt mit Vorliebe auf dem Klavier im alten Schulzimmer und möchte Hanna "anstupsen" mit seinen "wiegenden Akkorden".
Hanna liest immer wieder im Englischen Patienten und zieht Parallelen zu ihrem eigenen Leben.

... ein Zitat

"Eine mächtige Treppe führt auf den Kirchberg, zu dieser Kirche aus rotem Sandstein, die zu groß über allem thront und ein so kleines Dorf überfordert. Langsam steigt sie diese Treppe hinauf, schräg über die Stufen, das kommt ihrem schwachen Bein entgegen. Sie lehnt sich an die Balustrade. Drei Täler öffnen sich für drei Bachläufe, und hier, mit dem spitzen Helm des Kirchturms als Drehgelenk ihres Kompasses, ist sie genau in der Mitte. Sie streckt die Arme nach beiden Seiten aus und füllt ihre Lungen mit der Luft ihrer Kindheit."

... was mich bewegt hat

Das große leere Schulhaus, das wieder gefüllt wird. Hanna, die sich dort wieder verortet. Das zur Ruhe Kommen, ihre Introspektion und ihr Versuch, sich nach dem Schlaganfall weiterhin verständlich zu machen. 
Sehr eindrücklich. Und wunderbar verbunden mit diesem alten Haus auf dem Kirchberg. 
Bewegende, unvergessene Bilder.

... die Sprache

Außergewöhnlich schön. Sie fängt Stimmungen und Verstimmungen ein und begeistert mich ob ihrer Zartheit und den treffenden Bildern.

... ein Fazit

Sehr lesenswert. Schön aufgebaut und sprachlich ein Schätzchen.

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