"Fiasko" von Imre Kertész
"... zieht er sich in sein Fiasko zurück wie ein kranker Adler in sein Nest, die Schwingen gebrochen, aber noch mit ziemlich scharfem Blick."
Zu Beginn wird uns "der Alte" vorgestellt, ein zerstreuter Schriftsteller, dem die Idee für sein nächstes Werk fehlt und der in seiner kerkerartigen engen Wohnung unruhig hin- und herläuft. Wir erfahren, dass er bereits einen Roman veröffentlicht hat, aber seither mit "leeren Händen" wie "ausgeplündert" dasteht und keinen Stoff für ein neues Werk in sich verspürt.
Der Leser erfährt auch, dass der erste Roman des Autoren zunächst vom Verlag abgelehnt worden war, dann nach zwei Jahren doch herausgegeben wurde.
In dem Alten spiegelt sich Imre Kertész selber und das abgelehnte nebulöse Werk ist natürlich sein in Deutschland groß gefeierter "Roman eines Schicksalslosen".
Was viele nicht wussten: in Ungarn war dessen Verlegung tatsächlich erst abgelehnt und nachdem er doch erscheinen durfte, der Nichtbeachtung anheimgegeben worden. Für Imre Kertész, der dreizehn Jahre an diesem Herzstück geschrieben hatte, kam das einem Fiasko gleich.
Dieses Buch nun dient der Aufarbeitung der damaligen Zurückweisung. "Ich war tief gekränkt." Aber auch die Ungeheuerlichkeiten von Auschwitz sind nochmal Teil des analytischen Prozesses. Losgelöst davon kann das "Fiasko" nicht betrachtet werden.
Man spürt, dass Imre Kertész nie abgeschlossen hat und gleich Sisyphos den Stein der Bewältigung unermüdlich Richtung Gipfel rollt. Schreiben als Möglichkeit sich zu offenbaren und mitzuteilen. Das war es, was Imre Kertész sein Leben lang antrieb.
"Wichtiger als der Roman ist das, was er durch sein Schreiben erlebt hat ..."
Im Versuch, sein eigenes Ich objektiver wahrzunehmen, ersinnt er in einer Art Innenroman die Person des "Steinig" (und hat damit den Anfang für seinen neuen Roman gefunden). Steinig lässt er Vergleichbares widerfahren, bürdet ihm eine ähnliche Vita auf. Dieser überlebt zum Beispiel seinen eigenen Tod .... Eine Formulierung, die verrät, wie geistreich und mit wachem Humor der Autor ans Werk geht.
Und der Protagonist findet sich ebenso in einem Gesellschaftssystem wieder, das mit bedrohlich kafkaesken"Straf- und Verfolgungsmaßnahmen" die Menschen zu lähmen versucht. Der Bürger ergibt sich alternativlos den Regeln. Ähnlich muss es Imre Kertész in Ungarn ergangen sein, als die Diktatur restriktiv wütete.
Immer noch ringt der Autor mit dem Schicksalsbegriff, fügt ihm aber einen neuen Aspekt hinzu: Steinig arbeitet im zentralen Militärgefängnis als Gefängniswärter und schlägt in einer Auseinandersetzung einem "verstockten Gefangenen" ins Gesicht. Eine "niemals heilende Wunde" so sieht es Wärter Steinig, denn die eigene Entgleisung entsetzt ihn maßlos. Eigentlich hatte er ein "guter Gefängniswärter" sein wollen.
So "zusammengesperrt" können Täter und Opfer leicht zu einer verhängnisvollen Schicksalsgemeinschaft werden, die die gegenseitige Herausforderung fast schon zwingend macht.
Eine begnadete Szene, die dies schlüssig vor Augen führt.
Ein Buch, das mich gefordert hat! Der "Roman im Roman" (in dem von Steinig die Rede ist) verlangt einige Anstrengung.
Hinzu kommt, dass Imre Kertész lange Jahre als Übersetzer gearbeitet hat und als Leser selber sehr bewandert und interessiert war. Viele Figuren und Zitate aus Werken der Weltliteratur haben ihn inspiriert und er lässt sie vielfach in sein Werk mit einfließen. Und zur Bewältigung seiner Zeit in den KZs Buchenwald und Auschwitz und später der fehlenden Anerkennung als Schriftsteller im kommunistischen Ungarn bemüht er darüberhinaus viele philosophische Werke und ihre Leitgedanken. Sein Wissensspektrum auf diesem Gebiet hat mich sehr beeindruckt.
Ich möchte "Fiasko" ein unvergessenes Leseerlebnis nennen. Wer es nicht auf leichte Kost abgesehen hat, der kann es mögen. Ein anspruchsvolles Werk, das mich bis zur letzten Seite nicht losgelassen hat. Große Leseempfehlung!
Imre Kertész, ein stiller bescheidener Autor, aber für mich einer der Großen im Weltliteraturbetrieb.
2002 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.
Dieses Jahr am 31.03.2016 ist Imre Kertész in Ungarn verstorben.
"Um über unser Leben etwas sagen zu können, müssen wir unser Schicksal wertschätzen, mit kindlicher Hingabe ..."
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