Mittwoch, 2. September 2015

"Der lange Marsch" von Rafael Chirbes


        "Warum war alles im Leben ein Weglaufen und Dableiben zugleich?"

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Rafael Chirbes, spanischer Erzähler und Sozialkritiker, ist dieses Jahr am 15. August 2015 gestorben. Sein Tod gibt den Impuls, endlich zu einem seiner großen Werke zu greifen. 
Im Mittelpunkt Chirbes' Gesamtwerks stehen individuelle Schicksale zu Zeiten politischer und gesellschaftlicher Umbrüche in Spanien. Konkret ist es die Franco-Ära, die den Hintergrund für diesen Roman bildet. Rafael Chirbes lässt uns in das Leben von sieben spanischen Familien schauen und das über einen Zeitraum von dreißig Jahren. Im Vordergrund steht die Entwicklung von der Eltern- zur Kindergeneration. Erstere hat eine eher verzagte Haltung zum Widerstand, hat bereits Repressionen erfahren und lebt in ausgeprägter Furcht vor dem Geheimdienst.
Ihre Söhne und Töchter treffen als Studenten in Madrid aufeinander, freunden sich an und verbünden sich im fiebrigen Widerstand gegen die Franco- Diktatur. Während die Eltern noch mahnen, wird den Kindern ihre Regimeuntreue zum Verhängnis ...
Die Stärke des Romans liegt im Aufeinanderzulaufen der Lebensgeschichten sieben gemäß ihrer Elternhäuser sehr unterschiedlicher Kinder. Carmelo ist der Sohn eines Bauern, Helena die Tochter eines Arztes und José Luis der Sohn eines Schuhputzers ... In seinen Kapiteln springt der Autor von Familie zu Familie, so dass der Leser dem Wechsel manchmal nur mit Mühe folgen kann. Doch freundlicherweise liegt meinem Buch eine kleine Karte bei, auf der die handelnden Personen einander zugeordnet sind. Dafür sei dem Kunstmann-Verlag besonders gedankt.
Die Persönlichkeiten sind von Rafael Chirbes liebevoll herausgearbeitet. Sie kommen mir nahe und vermögen mich zu fesseln.
Der Autor ist ein großartiger Erzähler, der am Menschen bleibt und über ihn politische Missstände aufzeigt. Der einfache Eisenbahner Raúl erfährt die gleiche Aufmerksamkeit wie die großbürgerliche Erbin Gloria.

... das bewegte Herz

Die Verzweiflung der Eltern, als sie von dem politischen Aktionismus ihrer Söhne und Töchter erfahren und sie um deren Leben und erneut um das eigene fürchten. Der Moment, in dem der Arzt Don Vicente Tabarca in den Schubladen seiner Tochter Helena regimefeindliche Bücher findet und sie panisch entsorgt. "Gerüche von damals" kommen hoch, als er in den Schriften blättert, die zaghafte Erinnerung an eigene sträfliche Lektüren in jungen Jahren ...

... ein Zitat

"Auf einem Zementsockel liegend, machte er sich klar, dass es gewiss Jahre dauern würde, bis seine Stimme sich wieder unter die der Menschen dort oben mischen könnte, die scherzen, lachten und auf dem Weg nach Hause waren oder in ein nahes Café, um noch ein Glas zu trinken. Das Lachen und die Stimmen, die das Echo in der Zelle so lebendig klingen ließ, waren von ihm jedoch Lichtjahre entfernt. Dies war der Augenblick, in dem er sich wünschte zurückzukehren, um eine Schonfrist bitten wollte, sie sollten die Zeiger der Uhr rückwärts gehen lassen. Er erinnerte sich an das Geräusch des Wildbachs hinter dem Haus in Fiz, an die Kamelien und die Jacarandás ... und er wollte zurück zu all dem, von dem er wusste, dass er es nie wieder sehen würde, weil es unter dem Wasser eines Stausees für immer begraben lag."

... die Sprache

Sie ist leicht lesbar, aber an keiner Stelle banal. Eine reiche Sprache, die viel vermag: sich einzufühlen in des Menschen Innerstes und mit Schärfe aufzuwarten, wenn gesellschaftspolitische Prozesse an den Pranger gestellt werden müssen.

Ich möchte das Lesen dieses Buches unbedingt empfehlen. Rafael Chirbes wird zu den großen europäischen Erzählern gerechnet.
Er stammt aus einfachen Verhältnissen und wuchs, nachdem sein Vater früh verstarb, im Waisenhaus auf. Nach einem Studium der Neueren Geschichte in Madrid kam er über den Journalismus erst relativ spät zur Schriftstellerei.

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