Montag, 8. Juni 2015

"Keller fehlt ein Wort" von Patrick Tschan



"Und wie jeder Gang nach Santiago de Compostela oder Lourdes sei auch sein Weg ein Weg zu sich selbst."


Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Ralph Keller, 46, hat sein Frau verlassen und sucht wieder Zugang zu seinem Sohn Christian. In dieser Lebenskrise verliert er durch zwei Hirnschläge noch viel mehr, nämlich seine Sprache. Zunächst kommt ihm nur das Wort "Tasse" abhanden, dann muss er sogar ganz bei Null anfangen, denn sein Sprachzentrum ist komplett gestört (gleich einer "Ruinenlandschaft"). Bei seiner Aphasie helfen Ärzte, Therapeuten, Freunde, seine Sinne und die eigene Zuversicht. Vielerlei Ratschläge und Hoffnungsschimmer erreichen ihn und Keller lässt nichts unversucht.
Als der Arzt ihn über die Vorgänge in seinen verschiedenen Hirnregionen aufklärt, stellt Keller sich bildlich vor, wie die Wörter gleich einer "Völkerwanderung" von der gestörten linken Hälfte in die noch intakte rechte aufbrechen. Schön scheint mir in dem Zusammenhang auch das Bild vom "Pilgerweg". Das sind Momente im Buch, die begeistern. Wir haben es hier keineswegs mit einer trüben, traurigen Krankengeschichte zu tun. Das Buch lebt vom Optimismus und es ist herrlich, wie Keller unermüdlich und selbstironisch an sich arbeitet.
Am Ende verirrt der Roman sich leider ein bisschen in weniger ansprechende Handlung und ich begann mich zu langweilen. Eine Leseempfehlung spreche ich aber trotzdem aus, da der Roman in seinen ersten zwei Dritteln überaus stark ist.
Das Buch geht in der Hirnforschung weit zurück und ich bin beeindruckt, was Patrick Tschan an Details alles zusammen getragen hat.

... das bewegte Herz

Kellers Besuch im Kunstmuseum, wo er Gemälde auf sich wirken lässt. Er gibt sich der "Hoffnung Farbe" hin und spürt "Magie" beim Anblick bestimmter Kompositionen. Seiner Phantasie entspringen dann unter anderem "Sturmwindwellenpestogrün", "Dienstaghimmelblau" und "Sapperlotrosa". Und er spürt, wie sein Hirn arbeitet und "in seinem Kopf die Synapsen" glühen.
Herrlich!

... ein Zitat

"Seit zwei Stunden war er seiner Sprache ausgeliefert. Sie gehorchte ihm nicht mehr. Sie machte mit ihm, was sie wollte. Die Buchstaben ergossen sich nicht mehr in die dazugehörenden Töne. Der Klang der Worte ist ihm abhanden gekommen, irrt in seinem Gehirn umher, hat sich verselbstständigt, trifft eigene Entscheidungen ...die "Tasse" wandert um das Sprachzentrum herum, zeigte sich mal kurz an dieser, dann an jener Ecke, verschwand gleich darauf wieder in der Hirnrinde. Und Keller suchte die ganze Zeit nach ihr."

... die Sprache

Intelligent, mitreißend und kunstvoll formuliert. Unterhaltung auf hohem Niveau. Ernst und witzig zugleich.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen