Samstag, 25. Juni 2016

"Die Filmerzählerin" von Hernán Rivera Letelier

Was Fantasie vermag, davon erzählt dieses Buch. Sprachlich schön. Lesen!


"Ich erzählte den Film nicht, ich spielte ihn. Mehr noch: ich lebte ihn."

In der kläglichen Armut einer Minensiedlung in der Atacamawüste in Chile lebt die zehnjährige María Margarita mit ihrem gelähmtem Vater und ihren vier Brüdern. Nach einem Unfall des Vaters im Salpeterabbau kann die karge Rente kaum mehr die Familie ernähren.
María denkt oft wehmütig zurück an glückliche Jahre, als die Mutter noch bei ihnen war, erinnert sich vor allem an gemeinsame Kinobesuche und den Zauber, wenn sie sich am Wochenende fertigmachten und anschließend - Mama an Papas Arm - zur frühen Abendvorstellung flanierten, um in die Fantasiewelt des Kinos einzutauchen und sich Helden und Illusionen hinzugeben.
Heute reicht das Geld dafür nicht mehr, aber damit der Familie eine Möglichkeit bleibt, "der Wirklichkeit zu entkommen", hat der Vater die rettende Idee, Maria alleine in die Vorstellungen zu schicken und sie nach ihrer Heimkehr zu bitten, wiederzugeben, was sie gesehen und bewegt hat. Erfreulicherweise ist María nämlich eine vorzügliche Filmerzählerin. Ihr gelingt der Augenaufschlag Marilyn Monroes ebenso wie die Kühnheit Ben Hurs. Und mit Hilfe von selbstgenähten Kostümen und passenden Requisiten lässt sie das Wohnzimmer der Familie zur großen Bühne werden und bannt die Zuschauer mit ihrer Begeisterung und ihrem Talent. Das oft trostlose Leben in der Wüste für mal zwei Stunden dem Vergessen anheimgeben, das gelingt María. 
Später beglückt sie nicht nur mehr sich selber und ihre Familie mit den Vorführungen, sondern auch Freunde und Dorfbewohner werden aufmerksam.

" Wenn sie Filme erzählt, ist Ihre Tochter wie eine Fee. Und ihr Zauberstab ist das Wort. Damit betört sie uns alle."

Schließlich geht sie auf Einladung auch außer Haus, um ihr Können, zu präsentieren.
An einem dieser Tage widerfährt ihr etwas, das sie tief verletzt und ihr all die Leichtigkeit nimmt, mit der sie bislang an ein bisschen Glück glauben konnte.
Hinzu kommt, dass der Vater stirbt und einer ihrer Brüder ins Gefängnis kommt. Um das Haus zu halten, muss Maria sich in eine üble Abhängigkeit begeben.
Es ist, als hätte in diesem fernen Stück der Erde das Unglück Einzug gehalten. Nach dem Putsch General Augusto Pinochets wird die Salpetermine geschlossen und die Eisenbahn stellt ihren Betrieb ein. 
In den Häusern laufen jetzt Fernseher und Marías Erzählzauber ist nicht mehr gefragt. 

"Das Fernsehen befiel die Siedlung wie eine unbekannte und hochgradig ansteckende Krankheit. "

María breitet ihr Leben wie einen Film vor sich selbst und vor uns Lesern aus und es ist, als suche sie damit Abstand. Als betreffe es nicht sie selbst, sondern nur das Mädchen, dessen Geschichte sie erzählt. Vor unseren Augen laufen Szenen filmgleich ab. Ein sehr schönes Bild sind die Seidentücher der Mutter, die den Roman durchziehen. Zu Beginn trägt die Mutter sie beim Besuch des Kinos, später flattern die Seidentücher im Wind, als die Mutter weggeht. Und in eíner dritten Szene spielen die Tücher eine tragische Rolle. 

"Ich sehe sie fortgehen, wie die Bewohner der Siedlung fortgegangen sind, sehe, dass sie am Horizont verblassen wie Trugbilder, während die Musik nach und nach leiser wird und über ihren Silhouetten entschieden und unausweichlich das Wort erscheint, das kein Mensch in seinem Leben lesen möchte":

ENDE



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen