Freitag, 12. Mai 2017

"Das entschwundene Land" 
von Astrid Lindgren



"Was schlummert da nicht alles an Duft und Geschmack, 
an Lauten und Bildern 
aus einer verschwundenen Kindheit."


Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Astrid Lindgren lässt ihre Kinderaugen von damals wandern, sieht ihr Aufwachsen auf einem Pachthof in Näs in der schwedischen Provinz Smaland. Sie und ihre drei Geschwister verbringen viel Zeit draußen, schwimmen im Fluss, spielen im Heu, pflücken Blaubeeren und laufen über Schlüsselblumenwiesen. Die Naturverbundenheit ist eine ihrer liebsten Erinnerungen, sagt sie.

Nicht minder sind es ihre Eltern, die stets einen liebevollen Umgang miteinander hatten und den Kindern viel Geborgenheit schenkten. Im ersten Kapitel erfahren wir, wie die beiden sich kennenlernen, der beharrliche Samuel und seine Hanna, die "schön wie ein Marientag" war.

Mägde und Knechte auf dem Pachthof lebten mit im Familienverband und Astrid denkt an sie "mit Zuneigung". "Wie schwierig es manchmal ist, Mensch zu sein", hat sie von ihnen gelernt. Und auch die Eltern gaben ihr mit auf den Weg: " Reiß dich zusammen und mach weiter."
Astrid Lindgren war dankbar für ihre unbeschwerte Kindheit und entlieh ihr viele Figuren und Motive, um daraus ihre Kinderbücher zu zaubern.
Über Vorlesestunden ist sie zu einer Büchernärrin geworden. Lesen erfuhr sie als "das grenzenloseste aller Abenteuer" und sie ermahnt alle Erwachsene, den Kindern Bücher nahe zu bringen, denn so wären sie "für alle Wechselfälle des Lebens besser gerüstet."
Geschrieben hat sie zunächst für ihre Tochter Karin, darüber ist sie dann zur Schriftstellerin geworden.

... ein Zitat

"Zweierlei hatten wir, das unsere Kindheit zu dem gemacht hat, was sie gewesen ist- Geborgenheit und Freiheit. Wir fühlten uns geborgen bei diesen Eltern, die einander so zugetan waren und stets Zeit für uns hatten, wenn wir sie brauchten, uns im übrigen aber frei und unbeschwert auf dem wunderbaren Spielplatz, den wir in dem Näs unserer Kindheit besaßen, herumtollen ließen. Gewiss wurden wir in Zucht und Gottesfurcht erzogen, so wie es dazumal Sitte war, aber in unseren Spielen waren wir herrlich frei und nie überwacht. Und wir spielten und spielten und spielten ..."

... was mich bewegt hat

Die kindliche Unbeschwertheit, die Wärme des Elternhauses und die erwähnte Kraft, die man aus Büchern zieht.

... die Sprache

Astrid Lindgren träumt sich zurück in ihre Kindheit, die sie als rundum glücklich schildert. Ihre Sprache ist mitreißend und schön. Fast etwas märchenhaft. 

... ein Fazit

Der Stoff, aus dem Pippi Langstrumpf, Michel, Madita und die Kinder von Bullerbü gemacht sind. Sehr lesenswert!


Dienstag, 9. Mai 2017

"Benjamin und seine Väter" 
von Herbert Heckmann



"Benjamin jedoch rückte den Stuhl an sein Fenster und las in Don Quijote."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Die junge Anwaltsgehilfin Anna bringt zur Zeit der Weimarer Republik in Frankfurt Benjamin zur Welt bringt. Dr. Fritz Bernouilli, dem die Kanzlei gehört, nimmt sich ihrer und Benjamins an, da der Vater des Jungen das Weite gesucht hat.
Der herzensgute Anwalt wird von Anna kurz zu Jonas umgetauft, denn seine "gelinde Dickleibigkeit" lässt sie an die alttestamentarische Geschichte von Jona und dem Wal denken.
Jonas hängt sehr an Benjamin und fördert ihn in jeglicher Hinsicht. Vor allem bringt er ihm Bücher nahe. "Don Quijote" wird zum ständigen Begleiter Benjamins, der Junge liest viel, das "Buchstabenfieber" hat ihn gepackt. Jonas ist liebender Vater, Mentor und Lehrer zugleich.
Trotzdem ist Benjamin von einer tragischen Sehnsucht nach seinem leiblichen Vater erfüllt. Der Wunsch, ihn zu finden, ist immens groß. Erst im Epilog des Buches erfahren wir, ob Vater und Sohn zusammenkommen.
Benjamins innere Welt lässt die äußere nur als Randerscheinung zu. Die Nationalsozialisten drängen an die Macht und in der Schule wird ein Bild vom Führer aufgehängt. Max, der beste Freund Benjamins, muss die Stadt schlagartig verlassen. Benjamin bleibt kindlich naiv, erahnt höchstens die "Ausmaße des Unheils", wenn Jonas erregt von den "Tagesereignissen" spricht.

... ein Zitat

"Es war das letzte Mal, dass er seinen Vater auf den goldenen Thron seiner kindlichen Wünsche erhob. Seine Träume, der verstoßene Sohn einer bedeutenden Persönlichkeit zu sein und zu gegebener Zeit endlich herausgestellt zu werden: "Ja, das ist mein vielversprechender Sohn", diese Träume schwanden dahin.
Benjamin begann zu hassen und wollte nicht verstehen, wie man es in dieser Welt dilettantischer Väter aushalten könne, in dieser Welt der Versprechen, die keiner hält."

... was mich bewegt hat

Am meisten hat mich die Figur des Jonas bewegt, der so ganz selbstverständlich die Vaterrolle übernimmt und für Benjamin zur wichtigsten Bezugsperson wird.
Kein rührseliger Kitsch und doch hat das Buch mich emotional gepackt.

... die Sprache

Ganz fantastisch in der Beschreibung und Charakterisierung von Benjamin und Jonas. Einnehmende Dialoge, schöne Formulierungen. Flüssiger Stil.

... ein Fazit

Lesenswert!
Die Stadt Frankfurt hatte es übrigens dieses Jahr zum Lesefest "Frankfurt liest ein Buch" ausgewählt.
Die Erstauflage erschien 1962. Benjamin Heckmann lebt leider nicht mehr.

Sonntag, 7. Mai 2017

"Lesen als Medizin" von Andrea Gerk


"Wir verschwinden in einer literarischen Welt und 
tauchen verändert aus ihr wieder auf."

Es bleibt in Erinnerung ...

... viel Wissenswertes

Andrea Gerk spannt ihr Buch ganz weit auf, lässt keinen Kontext aus, in dem Lesen dem Menschen Heil und Befreiung bringt. Kulturgeschichtliches, relevante Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften, über die Bedeutung von Bibliotheken in Krankenhäusern und Gefängnissen, zu Lesekreisen und zur Bibliomanie und mit vielen Verweisen zu bekannten Autoren und ihren Werken.

... ein Zitat

Hier möchte ich einige originelle Kapitelüberschriften zitieren, die neugierig auf das Buch machen, 

Bücher statt Burnout / Lesen als Lebenshilfe
Wie Worte wirklich werden / Im neurowissenschaftlichen Labor
Erfundene Gefühle / Literatur als Soziallabor
Jailhouse Books / Legale Fluchtwege aus dem Strafvollzug
Verrückt nach Büchern / Königinnen, Mörder und andere Bibliomane


... was mich bewegt hat

Andrea Gerks Loblied auf den Lebenshelfer Buch ist in ihrem Innersten angestimmt. Dort sitzt der Stimulus für dieses umfang- und facettenreiche Buch.
Handschriftlich notierte Lesevorlieben namhafter Autoren: wer weiß schon, dass "Don Quijote" eines der Lieblingsbücher von Robert Seethaler ist? Eine schöne Idee, die Anregungen bringt und das Buch etwas auflockert.


... die Sprache

Dokumentarischer Stil und persönliche Einschübe wechseln sich ab. Sprachliche Prägnanz und Detailtreue in Recherche und Ausarbeitung. Und einfach schön, wenn die Autorin leibhaftig wird und wir auch in ihr Familienleben blicken dürfen.
Dieses "Zweierlei" gefällt vielen Literaturkritikern nicht. Ich aber halte es für eine gut gelungene Mischung.

... ein Fazit

Register sowie Literaturverzeichnis im Anhang zeugen von weitreichender Recherchearbeit. Andrea Gerk hat viel Wissenswertes zusammengetragen. Wer es schafft, ihr über die dreihunderfünfzig Seiten zu folgen, wird meiner Meinung nach belohnt.
Lesen!


Freitag, 5. Mai 2017

"Meine geniale Freundin" von Elena Ferrante


"... lebten wir plötzlich in zwei verschiedenen Welten."


Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Elena Ferrante erzählt von der Freundschaft zweier Mädchen, die in einem ärmlichen Rione Neapels gemeinsam aufwachsen. Lila, selbstbewusst und intelligent, ist die Tochter eines Schusters und muss den Eltern viel zur Hand gehen. Bildung wird zur Nebensache erklärt. Trotzdem ist Lila zunächst Klassenbeste in der Grundschule. Elena macht dies mit Fleiß wett, erreicht schließlich einen guten Abschluss und die Möglichkeit, in Neapel das Gymnasium zu besuchen. Lila bleibt dies verwehrt, stattdessen besorgt sie sich Bücher aus der Bibliothek und lernt fast mühelos autodidaktisch. Elena bewundert Lilas Leichtigkeit, neidet sie ihr aber auch. 
Während Elena sozusagen aus der Enge des Rione ausbricht, heiratet Lila in Erwartung einer "Zukunft voller Wohlstand" vor Ort in eine reiche Familie hinein. Mit dieser Hochzeit endet das Buch.

... ein Zitat

"Ich habe in meinem Leben vieles getan, doch nie mit Überzeugung, stets fühlte ich mich etwas losgelöst von meinen Handlungen. Lila dagegen zeichnete sich schon von klein auf durch eine absolute Entschlossenheit aus."
"Wieder fühlte ich mich beschämt von Lilas Schreibkünsten, von dem, was sie gestalten konnte und ich nicht, meine Augen trübten sich. Natürlich war ich froh, dass sie auch ohne Schulbildung ... so gut war, aber zugleich war ich unverzeihlich unglücklich darüber."

... was mich bewegt hat

Die Freundschaft der beiden Mädchen ist sehr bewegend erzählt, vor allem die ambivalenten Gefühle sind in ihrer Unverblümtheit sehr berührend.

... die Sprache

Eher einfach und doch ansprechend. Die Erinnerungen Elenas halte ich für gut und anschaulich in Sprache gesetzt. Fließend und einnehmend.

... ein Fazit

Etwas gestört haben mich die vielen Nebenfiguren, die alle dem Rione der beiden Mädchen entstammen. Es schien mir nicht immer plausibel, sie alle kennenlernen zu müssen.

Hype hin und Hype her: Elena Ferrante hat durchaus etwas in mir geweckt und ich werde gespannt das zweite Buch lesen. Insgesamt vier Bücher umfasst diese neapolitanische Saga, die in Italien bereits vor sechs Jahren erschienen ist.

Dienstag, 25. April 2017

"Das Flirren am Horizont" von Roland Buti


"Ich war Teil dieses Hauses, in dem jeder in seinem eigenen Winkel kämpfte."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Gus ist dreizehn Jahre alt und lebt mit seinen Eltern, seiner Schwester und dem etwas zurückgebliebenen Rudy auf einem abgelegenen Hof in der Schweiz. Während des brütendheißen Sommers 1976 verändern sich die Strukturen in dieser Familie, als sei die Hitze den Menschen in den Kopf gestiegen und ließe alles aufkochen, was bis dato unter einer glatten Oberfläche friedlich geruht hatte. Die Mutter beabsichtigt, die Familie zu verlassen, was die Gemeinschaft zum Kippen bringt. Gus tröstet sich mit einer verletzten Taube und schließlich mit Mado, einem Mädchen aus der Nachbarschaft. Die Hauptfigur dieses Romans ist der Vater, der den Hof mit viel Leidenschaft betreibt und der nun doch mit ansehen muss, wie alles zugrunde geht. 
Roland Buti führt seinen Roman auf die Spitze und das macht er hervorragend. Vorhersehbar ist eigentlich nichts, sondern der Leser wird gerne überrascht. Daher sei hier auch nicht mehr verraten.

... ein Zitat

"Ich wanderte an der Mauer des Gemüsegärtchens entlang in der Hoffnung, mir dadurch einen Hauch von Erfrischung zu verschaffen. Die Krallen meiner Taube bohrten sich in meine Schulter, und ich fing an zu laufen, um dem Vogel ein Gefühl des Fliegens zu vermitteln. Aber es war eindeutig zu schwül dafür. Erschöpft streckte ich mich in dem dürren Gras aus, das sich unter mir anfühlte wie eine abgewetzte Fußmatte."

... was mich bewegt hat

Die so brillant gezeichneten Figuren haben mich sehr bewegt. Gus lernt man sehr gut kennen, da er als Icherzähler tief blicken lässt. Dieser Heranwachsende spürt aber auch bis in die Haarspitzen, wie es um die Gefühle seines Vaters und um die von Rudy bestellt ist.

... die Sprache

Sie ist eine Wucht. Sie fängt die Hitze ein, schafft einzigartig schöne sowie aufwühlende Bilder, ist plastisch und von gnadenloser Direktheit. Und dabei trotzdem nah am Herzen.

... ein Fazit

Dieses Buch hat mich ausgesprochen überrascht. Es beschränkt sich nicht auf die im Klappentext versprochene Spannung und Katastrophe. Es kann mehr.

Ausgezeichnet mit dem Schweizer Literaturpreis 2014.

Samstag, 22. April 2017

"Sie kam aus Mariupol" von Natascha Wodin



"Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe ..."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Natascha Wodin kommt 1945 als Tochter sowjetischer Zwangsarbeiter in einem Lager für Displaced Persons in Fürth zur Welt. Als Natascha gerade zehn Jahre alt ist, bringt ihre labile Mutter Jewgenia sich um.
Über fünfzig Jahre später geht Natascha Wodin im Internet auf Spurensuche nach ihrer in Mariupol aufgewachsenen Mutter. In einer alten Wohnung tauchen im Zuge einer Entrümpelungsaktion die Memoiren ihrer Schwester Lidia auf, Notizen, aus denen sich ein kleiner Teil der "Lebenswelt" Jewgenias zusammensetzen lässt. Diese wird erst neun Jahre nach Lidia geboren und erfährt in ihren jungen Jahren in der Ukraine alle denkbaren Erschwernisse: Bürgerkrieg, Hungersnöte, stalinistische Säuberung, Krieg und Enteignung. Im Rahmen der Verschleppung von Ostarbeitern kommt Jewgenia 1942 nach Deutschland, wo sie zusammen mit Nataschas Vater in einem Montagewerk für Kriegsflugzeuge arbeitet. Nach den Zwangsarbeitseinsätzen bleiben die Eltern in Deutschland, sind jedoch fortan Außenseiter. Natascha und ihre Schwester wachsen in Bayern auf, erleben die Mutter als schwach und unglücklich, bis diese sich schließlich in "stiller Hoffnungslosigkeit" aus dem Leben schleicht.

... ein Zitat

"Ich hatte inzwischen angefangen, an dem geplanten Buch über meine Mutter zu arbeiten. Ich schrieb mit einer Hingabe wie noch nie, mit einem Glücksgefühl, das dem Stoff nicht angemessen war, während mir gleichzeitig schien, als müsste ich mich durch einen Berg graben, dessen Ende ich niemals erreichen konnte."

... was mich bewegt hat

Die kämpferische kühne Lidia, eine bemerkenswerte Frau!
Das nicht abreißende Unglück im Leben der Mutter und schließlich ihr Straucheln. 
Bewegend ist auch alleine schon die Unermüdlichkeit und Hingabe der Autorin.

... die Sprache

Sie ist sehr vielfältig, berauschend schön, wenn Natascha Wodin zum Beispiel von ihrer Wohnung aus auf den Schaalsee blickt und die Natur einfängt, streckenweise auch dokumentarisch, was bei der Fülle der gesammelten Informationen nicht ausbleibt.

... ein Fazit

Gebannt verfolgte ich Natascha Wodins Bemühen, die Mutter aus den "inneren Dunkelkammern" ans Licht zu ziehen. 
Im dritten Teil verliert sie sich meines Erachtens jedoch in vielen Mutmaßungen. Ihr Wunsch nach Lückenlosigkeit ist wohl immens groß. 
Insgesamt grandios. Auf jeden Fall lesenswert.

Die Autorin erhielt dafür 2017 den "Preis der Leipziger Buchmesse".