Montag, 17. August 2015

"Der Susan Effekt" von Peter Høeg


 "Allen Menschen wohnt ein tiefer, instinktiver Trieb zur Aufrichtigkeit inne."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Susan Svendsen ist nach einem Aufenthalt in Indien mit ihrer Familie nach Dänemark zurückgekehrt. Dort arbeitet die Dreiundvierzigjährige als Experimentalphysikerin.Wir lernen die Mitglieder der Familie als ausnehmend exzentrisch kennen. Alle vier agieren hochintelligent (auch schon die sechzehnjährigen Zwillinge) und die Eltern sind beauftragt, Informationen über eine sogenannte Zukunftskommission zu beschaffen, die fundamentale Forschungsergebnisse sichert und sich auf eine Evakuierung nach prophezeitem politischen und wirtschaftlichen Kollaps vorbereitet.
Susan vermag auf andere Menschen empathisch zuzugehen (was eher überrascht, da sie sich sonst als kühle, distanzierte Wissenschaftlerin gibt) und kann dazu bewegen, bereitwillig und aufrichtig zu plaudern. Sie gelangt so an wichtige Auskünfte und Gewillte, die ihr Türen öffnen, welche sonst geschlossen geblieben wären. Das nennt der Autor den "Susan Effekt".
Der Roman bedient sich einiger abstruser Vorkommnisse und die Happenings sind actiongeladen und leicht überzogen. Susan, Powerfrau mit Sexappeal, einem Kuhfuß in der Damenhandtasche und dem Wunsche, ihrem Peiniger mit dem Akkubohrer Terrassenschrauben in den Rücken zu jagen, ist manchmal nur schwer zu ertragen.

Susan erreicht nicht den Zauber von Fräulein Smilla. Bereits im Buchtitel fehlt er mir ...

Der Reiz liegt in psychologischen Einsprenkelungen, die Ruhe und Lebensweisheit in den Text zaubern.
Fast schon sanft erklingt eine gewisse Esoterik, die in krassem Gegensatz zur manchmal blutrünstigen Abschlachterei steht. Peter Hoeg schenkt auch der Physik viel Raum, lässt die Protagonistin Sachverhalte gerne von dieser Wissenschaft ableiten und schafft dabei faszinierende Gedankenexperimente.

... das bewegte Herz

Wenn Susan innehält und über das Leben nachdenkt. Darüberhinaus sind es oft die Dialoge, die mich bewegen. Die harte Susan mal ganz weich.

... ein Zitat

"Als ich selber klein war, hatte ich Angst, wenn der Schlaf sich näherte ... Die Angst hörte auf, als ich das periodische System verstand. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Ich sah die Tafel mit den Grundstoffen und begriff sie unmittelbar. Sie war eine Garantie. Die Karte einer höheren Ordnung.
Das war es, was ich den Kindern zu geben versuchte. Zuerst las ich aus einem Kinderbuch vor, sie saßen rechts und links an meiner Seite. Dann löschte ich das Licht. Im Dunkeln erzählte ich eine letzte Geschichte. Sie handelte immer von Physik ... Ich wollte ihnen eine Brücke aus Ordnung und Regelmäßigkeit bauen, die in den Schlaf führt, ein Diagramm über das Einzige, auf das man sich verlassen kann."

... die Sprache

Intelligent und ansprechend. Transportiert viel Fachwissen aus dem Bereich der Physik und Biologie. Sehr schöne Sprache, gar poetisch, wenn Susan auf Sinnsuche ist.

... die Frage: lesen oder nicht lesen?

Wer es temporeich und etwas rabiat mag, dem möchte ich diese Lektüre empfehlen. Und wem es gefällt, auf ein paar Seiten philosophisch berührt zu werden ... es gibt eben auch wunderbare Stellen im Buch!


Sonntag, 9. August 2015

"Brief an den Vater" von Franz Kafka


                                      "Du warst so riesenhaft in jeder Hinsicht ..."


"Brief an den Vater" gilt als Schlüssel zu Kafkas Gesamtwerk. Der übermächtige Vater drängt den Sohn in eine Position der Schwäche und Furcht und entzieht ihm die Möglichkeit zur Selbstbehauptung. Da Kafka "dieser Wirkung erlegen ist", fühlt er sich umso ängstlicher und nichtiger, je mehr der Vater Stärke und Unangreifbarkeit demonstriert. Kafka, das sensible furchtsame Kind, wird dem starken Vater nicht gerecht, der, so mutmaßt Kafka, lieber "einen kräftigen, mutigen Jungen" gehabt hätte.

Zitat:
"Ich hatte vor dir das Selbstvertrauen verloren, dafür ein grenzenloses Schuldbewusstsein eingetauscht. (In Erinnerung an diese Grenzenlosigkeit schrieb ich von jemandem einmal richtig: "Er fürchtet, die Scham werde ihn noch überleben.") Ich konnte mich nicht plötzlich verwandeln, wenn ich mit anderen Menschen zusammenkam, ich kam vielmehr ihnen gegenüber noch in tieferes Schuldbewusstsein ..."

Eine erleuchtende Leseerfahrung ist es, sich neben dem "Brief an den Vater" auch "Das Urteil", "In der Strafkolonie" und vor allem "Der Prozess" vorzunehmen. Schuld und Strafe stehen im Zentrum Kafkas Schaffens und immer ist es nicht alleine das Faktum, das sticht und zählt, sondern vordergründig die Empfindung und Wahrnehmung, die den "Angeklagten" hinnehmend und fatal reagieren lässt. Eine Schuld wird zugewiesen und der Umgang damit, eine gewisse Entrücktheit und Resignation, stößt erst den todbringenden "Prozess" an.
In seinem zuletzt genannten großen Werk kann Josef K. für sich "nicht die geringste Schuld auffinden" und setzt sich doch in der Meinung "wo gäbe es da einen Irrtum" den Anschuldigungen nicht zur Wehr. 
Psychologisch meisterlich und spannend. Dabei sehr bildhaft. 

Am Ende schließt sich der Kreis, wenn Josef K., der Gerichtete, sagt:

"... es war, als sollte die Scham ihn überleben."

Das ist Kafka! Genial! Lesen!

Samstag, 8. August 2015

Paarweise betrachtet ...

Philippe Djian ("In der Kreide") und Markus Gasser ("Das Buch der Bücher für die Insel")



Die Autoren versammeln in ihren Büchern Literaturwerke, die sie für besonders erwähnenswert halten. Philippe Djians Anspruch ist ein anderer, seine Auswahl dadurch eingeschränkter. Ihm geht es nur um Leseerfahrungen, die er in jungen Jahren gemacht hat, die ihn sozusagen für die Literatur geöffnet haben. Er empfand sie als "Glück, das an einen Rausch grenzte", führt so manche "Rührung" auf sein damaliges Alter (zwischen zwanzig und dreißig) zurück, auf "den Schock und die Reinheit der ersten Augenblicke".
Markus Gasser spannt seine Literaturliste sehr viel weiter auf, bezieht sich auf Bücher, die er über einen jahrzehntelangen Zeitraum gelesen hat. Insgesamt trägt er fünfzig Werke zusammen. Für ihn machen sie die Bibliothek aus, die er im Fall aller Fälle mit auf eine Insel nehmen würde. Er sieht sich als Bibliothekaren, der die beglückendsten Werke der Weltliteratur zusammenstellen soll. Auch hier also das Zugwort Glück, aber Gasser belässt es nicht dabei, sondern fährt ganz viel Hintergrundwissen auf, verknüpft gar die Biographie der Autoren mit Szenen aus deren Romanen. Sehr präzise und gut recherchiert stellt er uns seine Inselbibliothek vor und mir gefällt sein Akribie und seine Sorgfalt. Mitunter geraten mir seine Exkurse aber zu langatmig.
Markus Gasser ist der Professionelle, ohne Zweifel, "In der Kreide" von Philippe Djian liest sich dafür flüssiger.

Es gibt eine ganz markante Übereinstimmung, die liegt bei "Moby Dick" von Melville. Beide Autoren favorisieren darüber hinaus Faulkner und Hemingway. Bei Grasser vermisse ich die Begeisterung (sein Exkurs zielt in der Hauptsache auf das Alkoholproblem, das beide hatten), bei Djian finde ich sie. Hemingway war für ihn "ein großer Lehrmeister" und Faulkner durch "die Macht seiner Worte" ein "unvergleichlicher Autor" und "ein Meister des Aufbaus".
Zwei genannte Schriftsteller lassen keine Einmütigkeit zu: Markus Gasser lobt Nabokov und Flaubert. Zu beiden äußert sich Djian ablehnend.
Djians zündendes erstes Leseerlebnis war "Der Fänger im Roggen". Er schreibt dazu: "Vor dem "Fänger im Roggen" wusste ich nicht, was ein Buch ist. Ich glaube, man kann sein ganzes Leben lang lesen, ohne die Erfahrung zu machen, was ein Buch wirklich ist, und ohne je gespürt zu haben, wie man in die Knie geht ... Ich zitterte bei dem Gedanken, dass mir diese Erfahrung hätte entgehen können."
Aber auch Gasser kann mitreißen. Hier über Gabriel Garcia Márquez:
" Von erdbebenhafter Sprachgewalt und Einbildungskraft in einen Dauertaumel hineingerissen, findet der Leser weder Zeit noch Atem, sich zu fragen, warum er das bloß erfundene Geschick von Papierfiguren durchmachen soll: García Márquez geht aufs Ganze, als wäre das Erzählen gerade von ihm selbst ersonnen worden, und tilgt damit jeden Zweifel an der Daseinsberechtigung von Literatur."

Zu allerletzt freut mich eine Aussage der beiden, in der Einvernehmen herrscht: stets ist es der Stil, der einem Buch seine Einzigartigkeit schenkt. Ein Plot alleine verspricht weder Puls noch Atem, er muss scheitern, wenn ihm die Magie des Stils und der sprachlichen Komposition fehlt.
Hierzu findet Gasser die schöneren, gekonnteren Worte:

Der Stil "lässt uns "im Rhythmus seines Autors atmen."