Sonntag, 9. Dezember 2018



"Die Verlobten" von Alessandro Manzoni



"Sie müssen wissen, dass ich heute ein Mädchen heiraten wollte ..."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Die Geschichte spielt im 17. Jahrhundert in Italien in der Gegend des Comer Sees. Lucia, ein einfaches Bauernmädchen, und Renzo, ein Seidenspinner, lieben sich und möchten heiraten. Don Abbondio, der Dorfpfarrer, wird allerdings vom dem ruchlosen Don Rodrigo bedroht und redet sich raus. Renzo versucht es mit einer List, die misslingt, woraufhin das Brautpaar aus der Gegend flieht. Pater Christoforo hilft ihnen bei der Flucht. Lucia kommt zunächst in einem Kloster unter und wähnt sich dort in Sicherheit, aber ihr wird nachgestellt. Letztendlich ist es Kardinal Federigo Borromeo, der sie zu retten vermag. Manzoni setzt diesem Geistlichen hier ein literarisches Denkmal, denn seine Romanfigur ist historisch belegt: Als Erzbischof begründete Federigo Borromeo 1602 die berühmte Biblioteca Ambrosiana, die auch heute noch als "Mailänder Bibliothek" zu besichtigen ist.
Renzo verschlägt es nach Mailand und später ins Bergamaskische Gebiet und es bleibt zunächst ungewiss, ob Lucia und er überhaupt wieder zusammenkommen. Lucia hat ein Gelübde abgelegt, sie würde Renzo nie wieder erhören und außerdem wütet die Pest im Land und es ist fraglich, wer überleben wird.

... ein Zitat

"An dieser Stelle unserer Geschichte können wir nicht umhin, ein wenig zu verweilen, so wie der Wanderer, müde und erschöpft von einem langen Weg durch eine unfruchtbare, wilde Gegend, einige Zeit in dem Schatten eines Baumes im Gras neben einem Quell rastet. Wir sind auf eine Persönlichkeit gestoßen, deren Name und Gedächtnis den Geist, wann immer sie an ihn herantreten, mit einer sanften Regung der Ehrfurcht und einem freudigen Gefühl der Sympathie erquicken ...
Federigo Borromeo, geboren 1564 ..."

... was mich bewegt hat

Mich haben die beiden Geistlichen Pfarrer Don Abbondio und Pater Christoforo am meisten bewegt, ihre inneren Kämpfe und wie schwer es sein kann, Glaube, Liebe und Wahrhaftigkeit nicht nur zu predigen, sondern auch zu leben.

... die Sprache

Sehr schöne Sprache der damaligen italienischen Bildungsschicht. Manzoni hat nicht nur Prosa, sondern auch Gedichte geschrieben und das ist gut spürbar.

... ein Fazit

Gilt als das bedeutendste Werk der klassischen italienischen Literatur.

Lucias und Renzos Liebesgeschichte spiegelt sich in den damaligen gesellschaftspolitischen Verhältnissen wieder. Manzoni mutet dem Leser so einige Exkurse in die Historie Italiens zu. Beleuchtet werden vor allem die verschiedenen Klassen und Volksschichten, Aufstände wie der Mailänder Brotaufstand und die Folgen der Pestepidemie von 1630.
Hochinteressant, aber seitenweise auch anstrengend zu lesen.Trotzdem eine Lektüre, die ich empfehlen möchte. Beide Bände zusammen kommen auf etwa 700 Seite. Ein langer Leseatem ist also gefragt.

Samstag, 1. Dezember 2018

"Wild" von Reinhold Messner




"Als die Sonne aus den Zirruswolken bricht,
 glitzert die Luft voller Eiskristalle."

Es bleibt die Erinnerung ...

... die Story

Im Sommer 1914 verlässt die "Endurance" den Hafen von Buenos Aires. An Bord sind die britischen Polarforscher Ernest Shackleton und Frank Wild mit dem Ziel, als Erste den antarktischen Kontinent zu durchqueren. Als das Schiff 1915 im Packeis stecken bleibt und zerdrückt zu werden droht, verlassen die achtundzwanzig Expeditionsteilnehmer die Endurance und retten sich auf eine Eisscholle. Diese bricht, woraufhin die Männer mit Hilfe der Rettungsbote Zuflucht auf Elephant Island suchen. Von hier aus fährt eine kleine Gruppe, angeführt von Shackleton weiter über den südlichen Ozean nach Südgeorgien, um Hilfe zu holen. Zweiundzanzig Männer bleiben zurück und harren unter Frank Wilds Führung in der Eishölle aus. Vier Monate lang müssen sie auf Rettung warten und wissen nicht, ob diese überhaupt kommt. Minusgrade von 40 °C, Blizzards, Erfrierungen, Nahrungsknappheit und Depressionen setzen den Zurückgebliebenen zu. Überliefert ist, dass Frank Wilds Persönlichkeit "die Truppe aufrecht hielt" und einzig sein Zuspruch, sowie das Konzept der Aufgabenverteilung die Männer überleben ließ. Als Shackleton 1916 mit einem Rettungsboot zurückkehrt, können alle aufgenommen werden und in die Zivilisation zurückkehren.

... ein Zitat

"Immerzu Frost, alles gefroren: ihre Kleidung, die Schlafunterlage, die Schlafsäcke. Das Problem dabei ist die feuchte Atemluft, jede Art von Ausdünstung sammelt sich nachts in der Kleidung und wird anderntags draußen zu Eis. Die Männer schütteln es dann aus Hosen, Schuhen, Westen und Unterhemden. Ganz können sie es aber nie loswerden, und nachts, in ihren Schlafsäcken, taut das Eis wieder auf."

... was mich bewegt an

Reinhold Messners Begeisterung ist spürbar und das hat mir gut gefallen. Zweimal schon ist er persönlich vor Ort am "Point Wild" von Elephant Island gewesen, regelrecht fasziniert von den überlieferten Ereignissen.

... die Sprache

Zahlreiche (wahrscheinlich fiktive) Dialoge von einfacher Sprache. Geht es um das Bizarre und die Schönheit der Eislandschaft, gewinnt die Sprache aber gewaltig.

... ein Fazit

Meines Erachtens ein gutes Buch. Reinhold Messner hat einen ansprechenden dokumentarischen Roman geschaffen. Da der Autor selber mit extremen Herausforderungen vertraut ist, empfindet man den Ton des Buches als sehr authentisch.
Ich frage mich nur, warum es im Anhang keine Quellenangaben gibt. Nur im fließenden Text tauchen Hinweise auf etwaige Quellen auf, zum Beispiel hat Frank Hurley, ein Teilnehmer der Expedition, Fotos und Tagebuchaufzeichnungen hinterlassen. 
Etliche beeindruckende Fotos und Zeichnungen runden das Buch ab.

Sonntag, 25. November 2018


"Das Weihnachtshaus" von Zsuzsa Bánk




"Seither träumen wir davon, Weihnachten dort zu feiern."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Ein altes Haus im Odenwald, idyllisch gelegen, steht zum Verkauf und zwei Freundinnen erfüllen sich diesen Traum und erwerben es. Lilli heißt die eine, von der anderen, der Icherzählerin, erfahren wir den Namen nicht. Beide betreiben gemeinsam ein kleines Café und lieben es. Lilli ist die treibende Kraft, wirkt stark und unermüdlich und tut der Freundin gut, die vor nicht allzu langer Zeit ihren Mann Clemens verloren hat und nun alleine mit ihren zwei Kinder bei Frankfurt lebt.
In das Leben der beiden Frauen tritt Bill, ein Amerikaner, der zu Hause bei einem Wirbelsturm alles verloren hat und irgendwo neu anfangen muss. Er begibt sich daran, das alte Haus der Freundinnen zu renovieren, wird dafür sehr geschätzt und zum Heiligabend eingeladen. Den verbringen die Familien gemeinsam im neu hergerichteten Odenwaldhaus, gekleidet in Skihosen und Moonboots, denn die Heizung läuft noch nicht.
"Soeben hat die Zukunft begonnen" heißt es auf der letzen Seite.

... ein Zitat

"Lilli plant gern, sie plant lange im Voraus, sie macht gute Pläne, nützliche Pläne, die auch mich einschließen, von denen auch ich etwas habe, die auch meine Zeit in so etwas wie ein Gerüst füllen, die meinen Tagen eine Art Ordnung geben, eine Lilli-Ordnung, die gut für mich ist."

... was mich bewegt hat

Menschen können wie Geschenke sein ...
Gerade so in der Weihnachtszeit möchte man diesen Gedanken gerne zulassen. Eine Freundin wie Lilli ist auf jeden Fall ein Geschenk. Für mich ist sie das eigentlich Wunderbare an dieser Geschichte.
Bill als "unerwartetes Geschenk" als "Fügung" und als "Weihnachtsbote" ist mir dann doch etwas too much.


... die Sprache

Sanft und poetisch.

... ein Fazit

Ja, so lässt es sich leben, wenn Träume erfüllbar werden: ein kleines Liebhabercafé betreiben und sich ein altes Haus kaufen. Schöne Geschichte, aber ein bisschen zu pathetisch.


Zsuzsa Bánk 2013 in Neuss



Dienstag, 20. November 2018


"Das Verschwinden des Josef Mengele" 
von Olivier Guez




"Er erwacht erschöpft und schweißgebadet, 
sein Herz rast, er zittert am ganzen Körper ..."


Es bleibt in Erinnerung ...

... das Düstere

Olivier Guez erzählt die Geschichte von Josef Mengeles Flucht (welche sich über dreißig Jahre hinzog) und wie es dazu kam, dass er für seine Gräueltaten nie zur Rechenschaft gezogen werden konnte. Während Adolf Eichmann gefasst und gehenkt wurde, gelingt es Josef Mengele zunächst in Argentinien und Paraguay und danach in Brasilien unterzutauchen und dort, befreundet mit weiteren Altnazis, unentdeckt zu bleiben.
In Argentinien kommt er zunächst gar zu Wohlstand und Ansehen, doch nach dem Sturz des nazifreundlichen Juan Perón, ist es Mengele geraten, das Land zu verlassen. In Folge fühlt er sich auf seiner Flucht zunehmend gehetzter und isolierter.
Seine Helfer werden von Deutschland aus unterstützt. Sie kommen in den Genuss erheblich finanzieller Zuwendungen. Die längste Zeit lebt Mengele auf weit abgelegenen Farmen und bezahlt die Eigentümer für ihr Schweigen.
Als Josef Mengele beim Baden an der brasilianischen Küste durch einen Schlaganfall zu Tode kommt, begräbt man ihn vor Ort unter einem anderen Namen. Josef Mengeles Familie schweigt, um alle Beteiligten zu schützen und sich nicht verantworten zu müssen. Sechs Jahre später kommt man dahinter, exhumiert die Leiche und führt sie der Gerichtsmedizin zu.

... ein Zitat

"Ein Spezialdossier offenbart, dass seine Familie wusste, wo er sich versteckt hielt, und ihn bis zum Ende finanziell unterstützt hat. Rolf bestätigt in einer kurzen Pressemitteilung, dass sein Vater 1979 in Brasilien gestorben ist, und drückt Opfern wie Angehörigen sein tief empfundenes Mitleid aus. Er habe aus Rücksicht auf die Menschen, die seinem Vater geholfen hatten, den Tod verschwiegen. Kein Wort zu seinen Gewalttaten.
Dieter, Karl-Heinz und Sedlmeier sind nie strafrechtlich belangt worden, auch Rolf nicht. Der Vorwurf der Strafvereitelung ist in Deutschland nach fünf Jahren verjährt."

... was mich bewegt hat

Am meisten bewegt hat mich Rolf, der Sohn Josef Mengeles, sein Entsetzen, als er den Vater 1977 nochmal in Brasilien besucht und dieser "ohne Reue und Gewissensbisse" weiterhin das vertritt, was "seine Pflicht als Soldat und Wissenschaftler" gewesen ist.

.. die Sprache

Neben sprachlich trockenen Passagen haben wir lebendigere, die sich mit der Persönlichkeit und dem wankenden Befinden des Untergetauchten befassen. 
Olivier Guez ist Journalist und hat für Le Monde, die New York Times und die Frankfurter Allgemeine Zeitung gearbeitet. Er kann mit Sprache umgehen und hat meiner Meinung nach auch gut in die literarische Form des Romans gefunden.

... ein Fazit

Sehr lesenswert. Eine wirklich packende Lektüre. Sehr gute Recherche (lange Bibliographie-Auflistung im Anhang!).
Manchmal fragt man sich aber, was wahr und was fiktiv ist. Darf man Mengele zu einer Romanfigur werden lassen? Ja, man darf, finde ich. Wenn es so gut gemacht ist wie in diesem Buch.

Olivier Guez auf der Buchmesse Frankfurt 2018

Dienstag, 23. Oktober 2018



"Kinder in der Weltliteratur"
Erzählungen



"Er berührte das Gesicht seiner Mutter 
und war erstaunt, wie unbeweglich sie da lag ..."


Es bleibt in Erinnerung ...

... was erzählt wird

Die in diesem Büchlein versammelten Geschichten lassen uns in offene Kinderseelen blicken. Die Autoren sind weit gefächert, haben aber einen gewissen Anspruch gemein. Dieser liegt vor allem in der Sprache, aber auch in der Dringlichkeit, mit der Kinderglück oder -schmerz betrachtet werden. Lesen können wir hier zum Beispiel Guy de Maupassant, Fjodor Dostojewski, Katherine Mansfield, Hans Christian Andersen und Theodor Storm. Eine sehr schöne Mischung, die verschiedene Kulturkreise berührt.
Stille, eindrückliche Erzählungen, die im Gedächtnis bleiben.

... ein Zitat

"Ich war auf meiner Bank ganz wie verzaubert; diese seltsamen Bewegungen, diese feinen oder schnarrenden Puppenstimmchen, die denn doch wirklich aus ihrem Munde kamen - es war ein unheimliches Leben in diesen kleinen Figuren, das gleichwohl meine Augen wie magnetisch auf sich zog ...
Meine Schularbeiten machte ich niemals besser als in jener Zeit, denn ich fühlte wohl, dass das Auge meines Vaters mich strenger als je überwachte und dass ich mir den Verkehr mit den Puppenspielerleuten nur um den Preis eines strengen Fleißes erhalten könne."

... was mich bewegt hat

Die Blicke in die Kinderseelen berühren sehr. Oft sind die Geschichten traurig, aber die Kinder stecken voller Zuversicht und Bemühen, was für sich zu verbessern.

... die Sprache

Durchweg von hohem Niveau. Oft poetisch fein. Sie hält das, was man sich von diesem erlesenen Büchlein verspricht.

... ein Fazit

Die Manesse- Bibliothek stellt leider ihr Design um. Dieses Buch gehört aber noch zu der alten Reihe, die ich sehr schätze. Ich mag es nicht nur gerne lesen, sondern auch besitzen und freue mich über das kleine Juwel in meinem Bücherregal.


Freitag, 19. Oktober 2018


"Es liegt in der Familie" von Michael Ondaatje



"Das ist die Farbe der Landschaft, 
das ist die Stille, die die Ehe meiner Eltern umringte."

Es bleibt in Erinnerung ...

... was erzählt wird

Michael Ondaatje hat die ersten elf Jahre seines Lebens in Sri Lanka verbracht, ging danach in England zur Schule und siedelte 1962 zum Studieren nach Kanada über, wo er auch heute noch lebt. Die Suche nach seinen Wurzeln ließ ihn zwei mehrmonatige Reisen nach Sri Lanka (früher Ceylon) unternehmen. Wie sehr ihn diese bewegten, hat er im vorliegenden Buch festgehalten. Entstanden ist eine Sammlung eindrücklicher Fragmente, die den Leser mitnehmen in die dichte, feuchte Welt des Regenwaldes und in eine Familie, die eher bizarr anmutet.
"Jede Erinnerung ein loser Faden", schreibt der Autor und greift all diese Fäden auf, um sie mit den Eindrücken von Augen- und Ohrenzeugen aus der damaligen Zeit zu verspinnen. Die Kapitel kreisen um die Großeltern, Eltern und Geschwister, größtenteils einnehmende Persönlichkeiten, die von Michael Ondaatje vorsichtig und liebevoll zurück ans Licht geholt werden. Besonders exzentrisch wird der Vater geschildert, ein eher zurückgezogener Genosse, der Bücher und Pflanzen liebte, den größten Halt aber im Alkohol suchte und die Familie damit sehr belastete.

... ein Zitat

"Ich hatte diese Reise bereits geplant. An ruhigen Nachmittagen breitete ich Karten auf dem Fußboden aus und erkundete mögliche Routen nach Ceylon. Doch erst bei dieser Party, in Gesellschaft meiner engsten Freunde, wurde mir klar, dass ich zurück zu der Familie reisen würde, der ich entstammte- zu jenen Verwandten aus der Generation meiner Eltern, die mir im Gedächtnis standen wie eingefrorene Figuren aus einer Oper ...
Mitte Dreißig wurde mir bewusst, dass ich an einer Kindheit vorbeigeglitten war, die ich ignoriert und nicht begriffen hatte."

... was mich bewegt hat

Michael Ondaatjes Annäherung an das, was mal gewesen ist. Sein zärtlicher Blick auf Vergangenes.

... die Sprache

Reich an Metaphern. Satte Bilder, sehr schön in Worte gepackt.

... ein Fazit

Sehr lesenswert.

Freitag, 5. Oktober 2018


"Der Tag, an dem 
mein Großvater ein Held war" 
von Paulus Hochgatterer




"So wäre es am ehesten gewesen."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Auf einem Bauernhof in der Nähe von Linz taucht 1944 ein stummes Mädchen auf und bleibt. Für die Bauersleute ist es eine Selbstverständlichkeit, die dreizehnjährige Waise mit Namen Nelli aufzunehmen, denn bei einem Bombardement verlor sie ihre Eltern und blieb verstört zurück. Mit viel Zuwendung gelingt es, das Vertrauen des Mädchens zu gewinnen und Nelli beginnt gar wieder zu reden.
Ein Jahr später gewährt die Familie auch einem jungen Russen mit Namen Michail Asyl.
Als sich Wehrmachtssoldaten auf dem Hof einquartieren, gerät sein Leben in Gefahr, denn er wird als geflüchteter Zwangsarbeiter entlarvt und soll erschossen werden. Bauer Jakob aber stellt sich den Besetzern mutig entgegen!
... oder hat Nelli sich das nur ausgedacht? Das junge Mädchen schreibt nämlich eifrig Geschichten und lügt auch schon mal, wie sie selber sagt.
Im letzten Kapitel wird dann die Möglichkeit einer anderen Entwicklung ersonnen, wobei sich auch hier ein Happy End abzeichnet. Aber ist es tatsächlich so gewesen?
Das löst sich nicht auf. Beide Versionen bleiben nebeneinander stehen. Jedes Mal geht es um den Mut einzuschreiten und ein Menschenleben zu retten. 

Der zweite Weltkrieg als Szenario, darin als Kleinod der Bauernhof und die flackernde Hoffnung, in diesem Krieg, wie auch in jedem anderen, möge es Menschen geben, die für andere aufstehen und was riskieren.

... ein Zitat

"Die Schwalben sind da. Manchmal verändert so etwas alles. Du stehst irgendwo, zum Beispiel vor dem Haus, und denkst nach oder betrachtest die Wolken wie an jedem Tag, und nach einer Weile merkst du, dass etwas anders ist ... Plötzlich weißt du es: Es sind die Schwalben, die zurück sind. Sonst ist heute alles wie gestern. Die jagenden Wolken, die Maulwurfshügel, die abgebrochenen Äste unter den Obstbäumen, der Kleiber, der vorne die Scheunenwand auf und ab läuft. Kleiber sind Glückstiere, sagt Laurenz, genau wie Kröten oder Igel oder Hirschkäfer."

... was mich bewegt hat

Bewegend ist die Bauersfamilie, die gleich zwei Geflüchteten ein Zuhause schenkt. 
Besonders berühren mich Nelli und Laurenz (der Bruder des Bauern), denn sie sind aufmerksame Beobachter ihres Umfelds, studieren Mensch und Natur gleichermaßen. Nelli als Icherzählerin schenkt der Erzählung einen immensen Charme.

... die Sprache

Eine ganz behutsame Sprache setzt hier schrecklichen Ereignissen etwas entgegen. In den Betrachtungen der dreizehnjährigen Nelli liegt ganz viel Poesie.

... ein Fazit

Das Buch wirkt fast etwas episodenhaft. Es tauchen Figuren auf, die nach einem Kapitel wieder verschwinden. Trotzdem scheint es mir rund, denn etwas zieht sich durch das ganze Buch: Menschen werden zu Helden. 
Man muss nur daran glauben. Und es erzählen. Oder aufschreiben, so wie Nelli es tut. 
In der Literatur ist soviel möglich. Mir gefällt das und ich möchte dieses Buch gerne weiter empfehlen.


Dienstag, 2. Oktober 2018


"Ein Winter auf Mallorca" von George Sand


"Mit welcher Poesie erfüllt seine Musik den heiligen Ort ..."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

George Sand sucht im Winter 1838 mit ihren Kindern Maurice und Solange, sowie ihrem Geliebten Frédéric Chopin, Zuflucht auf der spanischen Insel Mallorca. Zum einen möchten sie dem hektischen Paris entfliehen, zum anderen suchen sie das mildere spanische Klima aus gesundheitlichen Gründen auf. Sowohl George Sands Sohn Maurice, als auch Chopin kränkeln und brauchen Luftveränderung. Mallorca ist noch nicht wirklich auf Touristen eingestellt und es mangelt an Unterkünften. Mit etwas Glück kommt die kleine Reisegruppe schließlich in der Kartause von Valdemossa unter, wo ehemalige Mönchszellen bezogen werden können.
George Sand sieht sich als Reiseschriftstellerin und hat für den Leser recherchiert. Wir erfahren viel über Temperaturen, das Klima und die Architektur, sowie über Geschichtliches. Vor allem mit der Inquisition befasst sich die Autorin ausführlich.
Die Französin ist verzaubert von der mallorquinischen Landschaft, aber ansonsten missfällt ihr so einiges. Schnell gibt es auf den Seiten negative Anklänge, die der Insel etwas den Zauber nehmen. Genannt werden das "widerliche" Olivenöl, die Häuser "bar jeden Schmucks" und die wenig zugängliche Bevölkerung. Beidseitig begegnet man sich mit Skepsis und wenig Einfühlungsvermögen.
Als das Wetter im Winter umschlägt und es zu wochenlangen Regengüssen kommt, verlassen sie Mallorca fast fluchtartig und kehren nach Hause zurück. Chopins Gesundheitszustand hat sich auf der Insel eher verschlechtert als verbessert.

... ein Zitat

"Ich habe nie etwas Reizenderes und gleichzeitig Melancholischeres gesehen als diese Landschaft, wo Steineiche und Johannisbrotbaum, Pinie und Olivenbaum, Pappel und Zypresse die verschiedenen Farbtöne ihrer Blätter in tiefen Lauben vermischen, wahre Abgründe von Grün, und wo der Bach unter üppigem Buschwerk von unvergleichlicher Anmut hinabeilt."

... was mich bewegt hat

Mir gefällt die Begeisterung für die Landschaft und was diese in den Künstlern bewegt. George Sand schreibt des Nachts an ihren Romanen weiter und Frédéric Chopin vollendet seinen Zyklus der 24 Préludes.
Obendrein schmücken das Buch sehr schöne Zeichnungen und Lithographien. Der Maler J.B. Laurens hat sich sichtlich von Mallorca inspirieren lassen.

... die Sprache

Sehr poetisch und bildhaft.

... ein Fazit

Das Buch ist von sehr ansprechenden Äußeren, hat gar etwas Bibliophiles an sich. Wenn man es aufschlägt ist man gleichermaßen fasziniert. Sehr schön schwarz-weiß bebildert.

Missfallen haben mir George Sands anmaßende Äußerungen über die ländliche Bevölkerung auf Mallorca. Sie klingen sehr hochmütig und lassen wirkliches Interesse an der Kultur der Einheimischen vermissen.
Schade, denn ansonsten ist es wirklich ein feines Buch.

Dienstag, 18. September 2018


"Ein Baum wächst in Brooklyn"
von Betty Smith



"Du musst deinem Kind jeden Tag
 eine Seite aus einem guten Buch vorlesen."


Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Die elfjährige Francis lebt mit ihren Eltern und ihrem Bruder im von Armut gezeichneten Brooklyn. Im Hinterhof des Mietshauses der Familie Nolan wächst ein Baum aus dem Beton, der zum Sinnbild dafür wird, sich durchzukämpfen und ein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.
Katie Nolan erzieht ihre Kinder sehr streng, denn ihr Anliegen ist es, sie mögen mehr Bildung erfahren als sie selber. Dazu zählt auch, sie zum Lesen anzuhalten. Jeden Tag eine Seite in der Bibel und eine Seite Shakespeare lesen, mit dieser Vorgabe wachsen Francie und ihr Bruder Neeley auf. Francie wird tatsächlich zu einer euphorischen Leserin und Geschichtenschreiberin. In der Hauptsache verarbeitet sie so ihren Alltag im Armenmilieu und erweist sich dabei als aufmerksame Beobachterin. Mit Francies Augen blicken wir auf ihr schamvolles Leben und hoffen von Kapitel zu Kapitel, sie möge diesem entfliehen können.
In den Mittelpunkt rückt die innige Beziehung zu ihrem Vater Johnny. Vater und Tochter fühlen einander sehr verbunden, aber der ansonsten herzensgute Mann ist dem Alkohol verfallen und entzieht sich immer wieder Frau und Kindern.
Da er nur sporadisch als Kellner arbeitet, ist Katie gezwungen putzen zu gehen, um die Familie zu ernähren und auch die Kinder übernehmen nach der Schule kleine Jobs.

... ein Zitat

"Von da an gehörte ihr mit dem Lesen die Welt. Nie wieder würde sie einsam sein, nie mehr würden ihr vertraute Freundinnen fehlen. Die Bücher wurden ihre Freundinnen, und für jede Stimmung gab es eines. Es gab Gedichte für stille Kameradschaft. Es gab Abenteuer, wenn sie die stillen Stunden leid war ...
Meine Großeltern konnten weder lesen noch schreiben. Die vor ihnen konnten weder lesen noch schreiben. Die Schwester meiner Mutter kann weder lesen noch schreiben ...
Aber ich, Frances K. Nolan, bin jetzt am College. Hörst du das, Francie? Du bist am College!"

... was mich bewegt hat

Es bewegt der Zusammenhalt in dieser Familie und Francies abgöttische Liebe für ihren Vater.
Sehr berührt hat mich auch das "Nordpolspiel": Wenn wenig zu essen im Haus ist und das Geld fehlt, neues zu kaufen, spielt die Familie, sie säße bei Schneesturm in einer Höhle fest und müsste sich die letzten Lebensmittel gut einteilen ...

... die Sprache

Einfach und flüssig zu lesen, aber von sehr schöner Sprache, die mich oft hat innehalten lassen.

... ein Fazit

Für die sechshundert Seiten braucht man einen recht langen Leseatem, aber er lohnt sich für diese Lektüre.
Liebevoll gezeichnete Charaktere, zu denen auch der Vater zählt. Keine der Figuren ist unsympathisch, alle haben sie einfach nur ihre Probleme.



"Pierre und Jean" von Guy de Maupassant


" Sein Herz hungerte nach der letzten Gewissheit ..."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Die ungleichen Brüder Pierre und Jean haben ihre Studien in Paris abgeschlossen und kehren zu den Eltern nach Le Havre in die Normandie zurück. Sofort glimmt eine alte Rivalität wieder auf, denn Pierre, eher in sich gekehrt, neidete seinem Bruder schon immer dessen Frohsinn und Leichtigkeit. Als ein alter Freund der Familie alleine Jean zu seinem Erben erklärt und dieser dadurch zu viel Geld kommt, quält die Missgunst Pierre umso mehr. Seine Grübeleien führen zu der Erkenntnis, seine Mutter müsse sich damals auf eine Affaire mit dem Verstorbenen eingelassen haben und Jean sei aus dieser Liebschaft entstanden. Von nun an tobt dieser böse Verdacht in ihm und bereitet ihm unerträgliche Pein. Es drängt ihn, die Wahrheit herauszufinden.

... ein Zitat

"Aber heute konnte er nichts mehr sagen, er konnte Jean nicht sagen, dass er ihn nicht mehr für den Sohn ihres Vaters hielt. Jetzt hieß es an sich halten, diese Schande, kaum entdeckt, in sich begraben, diesen Flecken auf der Ehre allen- auch vor seinem Bruder, vor allem vor seinem Bruder- verbergen. Er pfiff jetzt auf die törichte Scheu vor der Meinung der Leute. Hätte nur die ganze Welt seine Mutter angeklagt, wenn er, nur er, er allein sie für unschuldig hätte halten können! Wie jetzt neben ihr leben?"

... was mich bewegt hat

Wie die widerstreitenden Gefühle in Pierre wüten. Lange versucht er, ihrer Herr zu werden, aber seine Qual macht sich schließlich Luft.

... die Sprache

Sowohl präzise und klar als auch auch sehr poetisch.

... ein Fazit

Wer klassische Dramen liebt, wird dieses Buch mögen. Ohne fulminante Zuspitzung, aber trotzdem spannend! Mir hat es gut gefallen.
Schönes, gut zur Lektüre passendes Cover ("Rocheforts Flucht" von Edouard Manet").

Samstag, 8. September 2018


"Sechs Koffer" von Maxim Biller




"Onkel Dima kommt heute von seiner großen Reise zurück."


Es bleibt in Erinnerung ...

...die Story

Ein großes Geheimnis lastet auf der jüdisch-russischen Familie des heute in Berlin lebenden Autors Maxim Biller. Sein Großvater wurde 1960 am Moskauer Flughafen festgenommen und noch im selben Jahr hingerichtet. Das Urteil lautete auf Schwarzmarkt- und Devisenhandel. Da auch Maxims Onkel Dima in die Geschäfte verwickelt und verhaftet worden war, aber freikam, lag der Verdacht nahe, Dima habe seinen Vater denunziert, um die eigene Haut zu retten. Doch Maxim Biller inszeniert ab diesem Punkt ein interessantes Verwirrspiel.
Alle Familienmitglieder packen irgendwann ihren Koffer und gehen in den Westen. Der Roman wirft in jeden dieser Koffer einen Blick und versucht, dem Verrat auf die Spur zu kommen. Sechs Kapitel, sechs Koffer, sechs Einblicke. Und jedes Mal wird ein anderer beschuldigt, den Großvater verraten zu haben.

Maxim Biller wächst im Laufe des Buches mit; während er im ersten Kapitel noch ein Junge von sechs Jahren ist, begegnet uns am Ende des Buches der Endfünfziger von heute. 

... ein Zitat

"Er drehte sich um, in der nur einen Spalt weit geöffneten Tür, stand ich in meinem neuen, noch viel zu großen, blau gestreiften Pyjama, den mir Onkel Wladimir aus Brasilien geschickt hatte. Ich sah für meine sechs Jahre oft viel zu erwachsen aus, so wie jetzt auch. Ich hatte dieses ernste, dunkle, fast orientalische Gesicht, das sie alle in der Familie hatten- sein Vater, den sie immer auf Jiddisch Tate genannt hatten, aber auch er selbst und seine drei Brüder Dima, Wladimir und Lev."

... was mich bewegt hat

Die Nähe zu seiner Schwester Elena, die ebenfalls ein Buch herausgebracht hat, das sich mit der Familiengeschichte befasst.

... die Sprache

In der Annahme, Maxim Biller erhebe sehr hohen Anspruch an Literatur, hatte ich sprachlich mehr Mondänität erwartet. 
Wir finden hier eine eher einfache klare Sprache. Ohne viel Schnörkel.

... ein Fazit

Lesenswert mit Einschränkung.

Im dritten Kapitel fragt sich der fünfzehnjährige Maxim an die zwanzig Mal, ob der junge Mann, den er in Zürich kennengelernt hat, nun Miloslav oder Jaroslav hieß. Warum? Um herauszustellen, wie unzuverlässig Erinnerungen sein können? 
Eingeräumt, es könnte sich hier um ein Stilmittel handeln, missfallen haben mir diese enervierenden Wiederholungen trotzdem.

Grundsätzlich aber ein gut konzipiertes Buch. Das Thema der mehrfachen Emigration, das vielsprachige Aufwachsen, die Frage nach Wurzeln und Heimat. Maxim Biller lässt den Teenager Maxim die Schullektüre "Flüchtlingsgespräche" von Brecht lesen. Das ist gut gemacht, da sich die Problematik "Auswanderung" in der Lektüre widerspiegelt.
Ein Geheimnis wird umkreist, das geschieht zugegebenermaßen sehr literarisch, spannend und unterhaltsam.
Auch wie der Autor mit der Erzählperspektive spielt, gefällt mir sehr gut. Es gibt sowohl die Sicht des Icherzählers, als auch die eines auktorialen Erzählers.
Der Autor hat es mit seinem Roman auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2018 geschafft. Ich denke, dass wir ihn auch auf der Shortlist finden werden.

Ein unsympathischer, an skandalöse Grenzen gehender Literaturkritiker, aber nach meiner Einschätzung kein schlechter Autor. Beurteilen kann ich nur dieses Werk von ihm, denn weitere habe ich nicht gelesen.


Sonntag, 2. September 2018


"Der weisse König" von György Dragomán



"Seit mindestens drei Jahren 
hatte ich keine Südfrüchte mehr gegessen, 
und so rannte auch ich, so schnell ich konnte ..."


Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Dzsátá ist elf Jahre alt und lebt mit seiner Mutter im Rumänien des Jahres 1986. Ceausescu ist noch an der Macht, ein Diktator der besonderen Härte. Seine Gewaltherrschaft spiegelt sich in Dzsátás Kinderwelt, selbst den Kindern begegnet überall nur Terror (zum Beispiel auch durch die Lehrer) und sie üben sie selber in brutalen Kriegsspielen aus.
Nachdem sein Vater verhaftet worden und in ein Arbeitslager gebracht worden ist, bleibt Dzsátá nur noch seine Mutter. Die Mutter-Sohn-Beziehung ist eine herzliche und das einzige, was dem Heranwachsenden Sicherheit gibt. 
Es ist die Sicht des Kindes, die den Roman so bemerkenswert macht. Dzsátá wird im Grunde ständig überfordert und seiner unbeschwerten Kindheit beraubt, aber er betrachtet die alltägliche Tragik mit so viel Naivität und fast schon Unbeschwertheit, dass der Leser trotz all der horrenden Zustände oft schmunzeln muss. Gelernt hat Dzsátá auf jeden Fall, dass man mit Gewalt alles in den Griff bekommt und so versucht er am Ende des Buches auf wahnwitzige Art und Weise seinen Vater aus den Händen der "Inneren Sicherheit" zu befreien. Ganz voller Zuversicht.

... ein Zitat

"Vater war schon seit einem halben Jahr nicht mehr bei uns, obwohl es geheißen hatte, dass er nur für eine Woche wegfahren würde, ans Meer, zu einer Forschungsstation, in einer äußerst dringlichen Angelegenheit, beim Abschied hatte er zu mir gesagt, wie leid es ihm tue, mich nicht mitnehmen zu können, denn das Meer biete jetzt, im Spätherbst, einen wirklich unvergesslichen Anblick, es sei viel wilder als im Sommer, werfe riesige gelbe Wellen, alles sei voll weißer Gischt, so weit das Auge reicht, macht nichts, hatte er versprochen, wenn er wieder nach Hause komme, werde er mich mitnehmen, um es mir zu zeigen ..."

... was mich bewegt hat

Dzsátás gefühlvoller Umgang mit seiner Mutter. Rundherum erlebt er nur Rohheit, aber seiner Mutter begegnet er zärtlich und mit viel Liebe.

... die Sprache

Sehr lange Sätze, denen man aber gut folgen kann. Zum Teil derbe Sprache, die einfach den Umständen geschuldet sind, in denen Dzsátá aufwächst. Dazwischen überrascht sie aber auch immer wieder mit Schönheit.

... ein Fazit

Ein ganz besonderes Buch, das den Leser nicht wieder loslässt. Ich war entsetzt und beglückt zugleich.




Dienstag, 28. August 2018


"Die Stadt der Blinden" von José Saramago



"Ich sehe alles weiß, und ein trauriges Lächeln 
trat auf sein Gesicht."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Erzählt wird die Geschichte einer rasenden Epidemie und ihrer Folgen. Nach und nach erblinden in einer fiktiven Stadt alle Menschen. Zunächst sind es nur wenige und sie werden in einer verlassenen Irrenanstalt untergebracht. Doch immer mehr Blinde stoßen dazu und die Überbelegung führt zu katastrophalen Zuständen. Die Hygiene kippt, die Nahrungsmittel reichen nicht aus und einige Blinde verschaffen sich Vorteile und verteidigen ihre Vormachtstellung mit großer Grausamkeit. Nach einem Mord und einem Brand flüchten die Blinden zurück in die Freiheit. Niemand hält sie dabei auf, denn inzwischen sind alle Menschen in der Stadt Opfer der Epidemie geworden. Draußen wütet die gleiche Grausamkeit wie in der Anstalt. Jeder möchte irgendwie überleben und macht für den eigenen Vorteil vor nichts Halt.
José Saramago möchte genau das zum Ausdruck bringen: der Mensch fällt in die Unmenschlichkeit, sobald es um das eigene nackte Überleben geht. 
Die Blindheit dient José Saramago hier als eine Metapher für die Unfähigkeit des Menschen, Gut und Böse zu unterscheiden.

... ein Zitat

"Jetzt müssen wir nur noch entscheiden, wohin wir sie schicken, Herr Minister, sagte der Präsident der Kommission für Logistik und Sicherheit, die schnell zu diesem Zweck gebildet worden war und sich um den Transport kümmern wollte, um die Isolierung und Versorgung der Infizierten. Welche unmittelbaren Möglichkeiten haben wir denn, wollte der Minister wissen, wir haben eine leerstehende Irrenanstalt ..."

... was mich bewegt hat

Die mutige und tatkräftige Frau des Arztes könnte bewegen. Aber auch sie wirkt, als würde sie nur eine Rolle in einem Theaterstück spielen. 
José Saramago lässt seine Figuren alle namenlos, was mich als Leserin etwas auf Abstand gehalten hat.

... die Sprache

Sprachlich sehr ungewöhnlich, da die direkte Rede einfach mit in den Text gesetzt und nicht durch Anführungszeichen gekennzeichnet ist. Die meisten Sätze sind sehr lang gehalten. Sprachlich also eher sperrig, aber man gewöhnt sich tatsächlich recht schnell an den Stil.

... ein Fazit

José Saramago schont den Leser nicht. Die unmenschlichen Zustände, die geschildert werden, sind fast nicht zu ertragen. Der Autor möchte das schlimmstmögliche Szenario entwerfen, um massive Ängste und den herrschenden Egoismus unter Menschen herauszustellen. Mich hat das Buch zu sehr erschüttert. Ich weiß, dass der Autor mit seiner Geschichte große existentielle Fragen aufwerfen möchte, aber mir persönlich ist es zu krass.
Dieses Buch gilt als das bedeutendste Werk des Autoren und die schwedische Akademie verlieh ihm drei Jahre später (1998) den Literaturnobelpreis. Unter dem Aspekt kann man es lesen, man muss es aber nicht.


Freitag, 24. August 2018


"Der Lärm der Zeit" von Julian Barnes




" Er bewunderte alle, die sich gegen die Macht erhoben 
und die Wahrheit sagten."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

In Julian Barnes Buch geht es um den berühmten Komponisten Schostakowitsch, um dessen Leben und Wirken im totalitären Sowjetregime unter Stalin. Schostakowitsch fällt in Ungnade, als Stalin die Aufführung seiner Oper "Lady Macbeth von Mzensk" demonstrativ verlässt und diese damit der öffentlichen Schmähung preisgibt. Daraufhin muss Schostakowitsch gar um sein Leben bangen, denn er gilt als Abweichler und Volksfeind. Doch Druck und Bedrohung werden nur gezielt eingesetzt, um den Musiker wieder "umzuschmieden" und politisch für Propagandazwecke zu nutzen. Seiner künstlerischen Freiheit beraubt, bleibt ein gebrochener Mann zurück, der sich selbst verachtet. Als er schließlich sogar gezwungen ist, in die Partei einzutreten, weint er vor lauter "Selbstekel".
Fortan komponiert er mit Bedacht und systemverträglich, denn in ihm steckt für immer die Angst, erneut in Ungnade zu fallen.

... ein Zitat

"Oder wie es war, wenn dir die Lebensgeister erstickt, das Rückgrat gebrochen wurde. War das Rückgrat einmal gebrochen, konnte man es nicht wieder ersetzen wie die Saite einer Geige. Dann fehlte etwas in der Tiefe deiner Seele, und es blieb dir nur- was? - eine gewisse taktische Schläue, eine Fähigkeit, den weltfremden Künstler zu spielen, und eine Entschlossenheit, deine Musik und deine Familie um jeden Preis zu schützen."

... was mich bewegt hat

Schostakowitsch wartet des Nachts mit gepacktem Koffer vor dem Aufzug in seinem Haus, denn er befürchtet, verhaftet zu werden und möchte nicht, dass Frau und Kinder das hautnah miterleben.

... die Sprache

Julian Barnes beherrscht kurze als auch weitschweifende Sätze und sie sitzen immer. Ich mag seinen Schreibstil, er packt mich.

... ein Fazit

Julian Barnes hat für diesen Roman viel recherchiert. Materialien und Quellen werden von ihm im Anhang erwähnt. Mir gefällt sehr gut, was er daraus gemacht hat. Ein kluger Roman, dessen Lektüre ich sehr empfehlen kann.

Mittwoch, 15. August 2018


"Unter der Drachenwand" von Arno Geiger




" Bruchstücke der Vergangenheit fielen auf mich herunter
 und begruben mich, es war, als müsste ich ersticken."


Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Veit Kolbe kuriert in Mondsee "unter der Drachenwand" eine Verletzung aus, die er sich an der Front in Russland zugezogen hat. Es ist das Jahr 1944 und man erträgt die letzten Zuckungen des Krieges, hofft auf das Ende, eine Hoffnung, die sich durch das Jahr zieht, aber nicht erfüllt. Der vierundzwanzigjährige Veit muss in gewissen Abständen zur Nachuntersuchung nach Wien und jedes Mal befürchten, wieder "feldtauglich" geschrieben zu werden. Dabei leidet er immer noch unter den Folgen, durchlebt panische Anfälle, während derer ihn Kriegsszenarien heimsuchen. Helfen kann ihm nur die legalisierte Droge Pervitin, die an der Front großzügig an die Soldaten verteilt und zur Gewohnheit wurde.
Veit fühlt sich durch die Kriegsjahre seiner Jugend beraubt. Nach der Schule wollte er studieren ...und das Leben lieben. Aber man zog ihn direkt ein.

In Mondsee lernt er Margot kennen, die zusammen mit ihrer kleinen Tochter in der Nachbarschaft lebt. Veit und Margot kommen sich näher und sind einander Halt in dieser ruhelosen Zeit. Für Veit fühlt es sich wie ein "Neuanfang" an und doch befürchtet er, "das Glück mit Margot" wieder zu verlieren. Nur zaghaft denken die beiden an die Zukunft. 
Gefasst ertragen sie es, als Veit wieder "kriegsverwendungsfähig" geschrieben wird und zurück an die Front muss.
"Nie bin ich mehr am Leben gehangen als in diesem Moment." So seine Gedanken beim Abschied.
Ein letzter Blick auf die Drachenwand und er reist schweren Herzens ab ...

... ein Zitat

"Seit ich im Spätsommer vor mehr als fünf Jahren zum Militärdienst eingezogen worden war, hatte sich das Zimmer kaum verändert, die Schulbücher lagen noch im Schreibtisch, mich an die Jahre erinnernd, die mir niemand zurückgab. Ich hätte versuchen können, aufzuholen, was aufzuholen war, statt dessen lag ich auf dem Bett ohne Antrieb, ein abgenagtes Stück Herz. Und immer wieder ging mir durch den Kopf: Ich habe so viel Zeit verloren, dass ich sie nicht aufholen kann."

... was mich bewegt hat

Die Gedanken, die Veit sich macht, seine Beobachtungsgabe, sein Mut.

... die Sprache

Ausdrucksstark. Schöne Textstellen. Und ich mag Arno Geigers feinsinnige Ironie.

... ein Fazit

Ich gebe zu, die Inhaltsangabe zu diesem Buch macht keine große Lust auf die Lektüre. Aber, Leser, traue dich, es ist so schön geschrieben!

Etwas beschwerlich sind die in den fließenden Text gesetzten Briefe. Zu gedrängt, zu viele Infos auf einmal.

Dienstag, 14. August 2018


"Maestro" von Peter Goldsworthy


"Wir verlieren nie ... wir lernen nur."


Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Der fünfzehnjährige Paul Crabbe zieht mit seinen Eltern nach Darwin, eine Stadt im schwülen Norden Australiens. Selber sehr musikalisch möchten die Eltern ihren Sohn gerne fördern und melden ihn zum Klavierunterricht bei Eduard Keller an. Von dem weiß man zunächst nicht viel, nur dass er ein begnadeter Pianist ist und daher auch "Maestro" genannt wird. Paul entwickelt sofort eine Abneigung gegen ihn, was nicht verwunderlich ist, denn Eduard Keller weist sadistische Züge auf und demütigt seinen motivierten Schüler geradezu. Der junge Paul aber versucht, hinter die Fassade seines allzu strengen Klavierlehrers zu blicken, vermutet er doch in Eduard Kellers Vergangenheit ein übles Geheimnis, das zu ergründen ist. Sein Verdacht geht in Richtung "Nazi" und "Kriegsverbrecher", aber es offenbart sich etwas anderes Unvorstellbares. Soviel sei gesagt: Offiziell gilt der Lehrer als bereits tot.
Das Buch lebt von Pauls Beziehung zu Eduard Keller. Aus Abneigung werden Faszination und Wertschätzung. 
Am Ende trauert Paul um diesen bemerkenswerten Menschen und wünscht sich verpasste Gelegenheiten zurück. Der Lehrer ist ihm wie ein Vater gewesen, stellt er rückblickend fest.

... ein Zitat

"Die Welt zu beschreiben heißt immer, ihre Struktur zu vereinfachen, das Gewebe zu vergröbern: das Besondere im Allgemeinen zu verlieren. Doch während ich hier sitze und schreibe, ordnen sich die Ereignisse meiner Kindheit ganz natürlich zu Mustern, als wollten sie sich selbst in einfache, leicht zu merkende Kategorien einfügen. Die Vergangenheit formiert sich in wohlgeordneten Reihen wie Schüler auf dem Schulhof oder die Linien im Übungsheft eines Kindes."

... was mich bewegt hat

Sehr bewegend ist das Zerrissene und Gespaltene an Eduard und wie Paul ihn zu schätzen lernt.

... die Sprache

Sprachlich sehr überzeugend. Und doch einfach zu lesen.

... ein Fazit

Auf jeden Fall empfehlenswert!
(Einzig ein wenig gelangweilt habe ich mich, als Pauls Aktivitäten in einer Rockband geschildert werden.)

"Der Reisende" von 
Ulrich Alexander Boschwitz




"Wieder hörte er auf das Stottern der Räder, 
die Musik des Reisens."


Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Im Mittelpunkt steht der jüdische Kaufmann Otto Silbermann, der in Berlin von einem Tag auf den anderen ein Getriebener, ein Ausgestoßener wird. Es ist die Zeit der Novemberprogrome und Otto Silbermann muss erkennen, dass sein Leben bedroht ist. Zu lange fühlte er sich sicher, fest verankert im Privat- und Geschäftsleben. Als seine Wohnung gestürmt wird, gelingt ihm die Flucht und von dem Tag an kommt er nicht mehr zur Ruhe. Mit einem in seinen Pass gestempelten "J" traut er sich kaum, in Hotels unterzukommen. Also begibt er sich auf ständige Reise und verbringt Stunden, Tage, Nächte in Zugabteilen oder als einer unter vielen im Gedränge von Bahnhöfen. Lange trägt ihn die Hoffnung, er könne das antisemitische Deutschland irgendwie verlassen ...

... ein Zitat

"Was ich auch getan habe, dachte er, heute bekommt es ein neues Gesicht, denn heute bin ich ein angezweifelter Mensch, ein Jude.
Er stieg in den inzwischen eingelaufenen Zug ein. Soll das denn nun ewig so weitergehen? Das Reisen, das Warten, das Fliehen? Warum geschieht nichts? Warum wird man nicht festgehalten, verhaftet, verprügelt? Sie treiben einen bis an die Grenze der Verzweiflung, und dort lassen sie einen stehen."

... was mich bewegt hat

Der Verrat, den er erfahren muss, vor allem der durch die Menschen, die ihm vorher nahe standen. 

... die Sprache

Schwere Kost in einfacher, aber treffender Sprache. Jede Formulierung sitzt.

... ein Fazit

Ein Zeitdokument, das ich wie geschaffen halte für den Oberstufenschüler. Unaufgeregt und trotzdem eindringlich erfährt man an Otto Silbermann, wie es den Juden damals ergangen ist. Hervorragende Literatur, die still das Unvorstellbare exponiert. Sehr gut aufgezeigt ist, wie wenig der Judenhass damals in der Bevölkerung hinterfragt worden ist.
Das Manuskript zu diesem Roman ist bereits 1938 entstanden. Ulrich Alexander Boschwitz war selber verfolgter Jude. Damals erschien sein Roman nur in England und Amerika. Es brauchte eine aufmerksamen Verleger, um diesen Roman dieses Jahr endlich dem deutschen Leser zu präsentieren. 

Sonntag, 5. August 2018


"Mein Schmetterlingsjahr" von Peter Henning




"Müsste ich ein persönliches Wappentier benennen, 
wäre es zweifellos der Schwalbenschwanz."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Mit den meisten Schmetterlingen verbindet Peter Henning ganz bestimmte Orte. Seine Erinnerung ruft sie auf, denn es sind Landschaftsstriche, in denen er die eine oder andere Art das erste Mal gesichtet hat. Unvergesslich für ihn.
Schon als Kind beglückten die Falter ihn beim Herumstreifen in den Mainauen, später krönte eine gemeinsame Europareise mit seinem Ziehvater Viktor diese Passion.
Fünfzig Jahre danach begibt Peter Henning sich erneut auf Europareise, im Gepäck seine "Sehnsuchtsliste", auf der die Falter notiert sind, die er gerne in ihrer natürlichen Umgebung vor die Kamera bekommen möchte. Er erfüllt sich mit dieser Falterexpedition einen großen Traum und diesem widmet er dieses Buch. Fernerhin schreibt er es in Gedenken an Viktor, der ihm als Kind mit seinem "profunden Falterwissen" und seiner Begeisterung die Augen für die Welt der Schmetterlinge geöffnet hat.

... ein Zitat

"Andere legen ein Sabbatical ein, um eine Zeit lang Abstand vom Alltag und den Kopf frei zu bekommen. Ich habe mir dafür ein Schmetterlingsjahr gegönnt. Ich beugte mich über die Europakarte, wählte als Reiseziele die Flugorte jener Falter aus, die ich immer schon einmal in ihrer ursprünglichen Umgebung beobachten wollte, arbeitete eine Route aus, packte meine Koffer, sagte meinen Freunden Adieu und brach auf. "

... was mich bewegt hat

Seine Begeisterung für Schmetterlinge. Es grenzt an  Ehrerbietung, wenn er von diesen Geschöpfen spricht.

... die Sprache

Teils lehrbuchartig, aber sobald Peter Henning ins Schwärmen gerät, wird sie lebendig und emotional.

... ein Fazit

Man sollte sich schon ein wenig für Schmetterlinge interessieren, dann ist man der richtige Leser für dieses Buch.
Die Aufmachung des Buches erhält von mir das Prädikat 'wertvoll'. Mit einem Bezugsmaterial, das sich wie Leinen anfühlt, liegt es wunderbar in der Hand. 
Gleich nach dem ersten Aufklappen sind auf einer Europakarte die besuchten Orte eingezeichnet und in den Text sind zahlreiche schwarzweiß gezeichnete Schmetterlingen gesetzt. 
Den Theiss-Verlag möchte ich mir merken!

"Ein Julitag" von Hans Werner Richter



"Schon im Mai, in der Nacht der Bücherverbrennungen,
hatte er beschlossen, wegzugehen."


Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Christian Wahl trifft am Grab seines Bruders auf dessen Witwe Karoline. Vor etwa fünfzig Jahren, in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, sind Karoline und er ein Paar gewesen und gingen damals gemeinsam nach Paris, um dem Nationalsozialismus zu entkommen. Er und Karoline erinnern sich der gemeinsamen Zeit.

Hans Peter Richter entwirft diesen Plot, um damit seine eigene Flucht ins französische Exil im Jahre 1933 zu verarbeiten. Er, ein politisch engagierter Mann, war hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, sich im Ausland vor der tobenden Verhaftungswelle in Sicherheit zu bringen und dem Wunsch, im eigenen Land auszuharren, um dort politisch etwas zu bewegen. Wie es im Nachwort dieses Romans heißt, litt er im Exil unter dem "Zerbrechen" seiner "Selbstachtung". 

... ein Zitat

"Ja, er hatte ihn geliebt, seinen jüngsten Bruder, dessen Leben so anders verlaufen war als das seine, und doch geprägt von den gleichen Zeitereignissen, den Umbrüchen und Kriegen, den Niederlagen und den seltenen persönlichen kleinen Erfolgen. Doch die Bilder seiner Erinnerungen sind verblasst, die Bilder der Kindheit, der Jugend, der gemeinsamen Erlebnisse."

... die Sprache

Gefällig zu lesen, flüssig und leicht. Man findet schöne Stellen, zum Beispiel die, in der der Pastor Ähnlichkeit mit einer "Figur aus Ibsens Dramen" zu haben scheint.

... ein Fazit

Ich plädiere für's Lesen! Das Wissen darum, dass der Roman autobiographisch eingefärbt ist, macht ihn sehr interessant. Und Hans Werner Richter ist als damaliger engagierter Gegner des Nazi-Regimes und als Begründer der "Gruppe 47" eine Persönlichkeit, von der ich gerne etwas mehr erfahren möchte.