Mittwoch, 30. März 2016

"Unterm Rad" von Hermann Hesse


"Er hatte jetzt kein anderes Verlangen als zu rasten, sich auszuschlafen, 
auszuweinen, auszuträumen ..."

Hans Gieberath wächst in einem kleinen "Schwarzwaldnest" auf und wird ob seiner schulischen Leistungen zur großen Hoffnung von Vater, Rektor und Stadtpfarrer und dem ganzen Dorf. Er wird angetrieben, bekommt zusätzliche Lehrstunden in Mathematik, paukt auch in den Ferien und schafft schließlich die Aufnahmeprüfung für das Zisterzienserkloster in Maulbronn, wo seine protestantisch-theologischen Studien beginnen.
Er muss sich vom "Glück der Kindheit" verabschieden, was ihn schmerzt, aber mit viel Fleiß und Ehrgeiz widmet er sich dem Lernstoff, spürt "Erkenntnisdurst" und die Hochachtung der Lehrer.

In seinem Jahrgang ist er nicht der einzige Sonderling. Ein weiterer Junge, mit Namen Hermann Feilner, fällt auf, ein eher unruhiger, rebellischer Geist, der mit Lernen nicht viel am Hut hat und die Lehrer gegen sich aufbringt. Hans ist fasziniert von ihm und ihn lockt das "Land der Freundschaft". Er verbringt viel Zeit mit Hermann und stellt schließlich seine schulische Beflissenheit hinten an.
Hermann wird wegen "Widersetzlichkeit und Entartung" der Einrichtung verwiesen und Hans kurze Zeit später gemüts- und nervenkrank nachhause geschickt. Die Schule spricht von einem "nervösen Schwächezustand".
Hans gerät also unters Rad.

"Nicht matt werden, sonst kommt man unters Rad" ist die Aussage von Lehrer Ephorus.

Der enttäuschte Vater zu Hause "beschwerte ihm das Herz" zusätzlich, lässt ihn den "abgebrochenen Lebensfaden" erst so richtig spüren. Hans gibt sich Erinnerungen an die Kindheit hin, denkt an den "Zauberwald" von damals, vor allem ans Angeln, das ihm immer eine besondere Freude war. Die "Neige des Herbstes" wird ihm gewahr und er fühlt sich mitvergehen und denkt gar an den Tod aus eigener Hand.
Sehr intensive schöne Zeilen, die wiedergeben, wie sich sein Gemüt in der Natur spiegelt. Hermann Hesse versteht sich auf solche Schilderungen ganz wunderbar.

Hans fängt sich und bemüht sich in einer Mechanikerwerkstatt um eine Lehrstelle zum Schlosser. Die Arbeit befremdet und ermüdet ihn. Er fühlt sich wie ein "kleinster Lehrbub".
Seine Liebe zu dem Mädchen Emma lässt ihn kurz aufleben, aber Emma geht weg aus dem Dorf und überlässt ihn "trostloser Grübeleien". Hans sucht Kontakt zu den anderen Lehrbuben, denn er sehnt sich nach Freundschaft. Als er mit den Kameraden einen "fidelen Sonntag" verbringt, möchte er so sehr dazugehören, dass er maßlos mittrinkt. Zunächst verschafft ihm das viel Spaß, doch es endet in "Scham und Selbstvorwürfen", als er alleine auf dem Heimweg ist. Hans steuert bewusst oder unbewusst auf den Fluss zu ...

"Wieder war Hans Giebenrath eine Berühmtheit geworden, für die sich jeder interessierte ..."


Der Leidensweg eines Musterschülers, der auch dann noch nicht zu Ende ist, als der äußerliche Druck nachlässt. Längst sind die übergroßen Erwartungen verinnerlicht und das Scheitern ins Herz gebrannt.

Hermann Hesse ist selber Schüler im theologischen Seminar zu Maulbronn gewesen. Wie Hans' Vater übte Hermann Hesses Vater immensen Druck auf seinen Sohn aus. Gleich der Figur des Hermann Heilners reagierte Hermann Hesse mit Rebellion und gleich der Figur des Hans mit Depression.
Die stark autobiographischen Züge dieser Erzählung verleihen ihr einen zusätzlichen Reiz.

Eine Lektüre, die ich empfehlen möchte.
Die geschilderten Umstände treffen auch heute - etwa 120 Jahre später - noch auf viele Schüler zu.
Es ist ein gescheites, kluges Werk und eines Themas, dessen Hesse sich in zahlreichen seiner Werke annahm: der Konflikt um die Anpassung an die durch die Gesellschaft bestimmten Normen.

Hermann Hesse schreibt zart und poetisch und lässt den Leser tief in die Seele des Hans Giebenrath blicken. Seine Innenwelt spiegelt sich in der Natur und in den Dingen. Wunderschön zu lesen.




Sonntag, 27. März 2016

"Herrn Arnes Schatz" von Selma Lagerlöf



Selma Lagerlöf ist heute ein wenig in Vergessenheit geraten. 1909 erhielt sie als erste Frau den Nobelpreis für Literatur und zweifelsohne zählen ihre Werke zur Weltliteratur. Allen voran ist wahrscheinlich "Nils Holgersson" bekannt, aber Selma Lagerlöf hat auch sehr viele Romane und Erzählungen für Erwachsene geschrieben. Angesiedelt sind ihre Geschichten stets im schönen Schweden und immer schwingt etwas Mythisches und Sagenumwobenes mit. Überdies rückt sie gerne die Frage nach Bürde und Schuld ins Zentrum und lässt ihre Protagonisten nicht zur Ruhe kommen, bevor sie sich nicht in Einsicht und Läuterung geübt haben. 

Elsalill, ein junges Mädchen, erlebt den Überfall auf einen schwedischen Pfarrhof und bleibt als einzige Zeugin zurück. Drei Schotten ermorden den Pfarrer samt seiner Familie und machen sich mit einer Kiste voller Geld (Herrn Arnes Schatz) aus dem Staub. Da die Männer als Gerber verkleidet waren, erkennt Elsalill die Mörder nicht, als sie sie später am Hafen trifft. Erst als der Geist der kleinen toten Pfarrerstochter es ihr gewissermaßen einflüstert, erinnert sie sich. Inzwischen hat sie sich jedoch in einen der Männer verliebt und ringt in unermesslicher Pein mit sich, ob sie ihn verraten soll oder nicht.
Wunderschön auch die Rolle, die die Natur spielt: das Schiff, auf dem die drei Schotten die Schatzkiste nachhause führen wollen, kann nicht auslaufen, da das Meer zugefroren ist. Als wollte auch die Natur, dass erst Recht gesprochen wird ... was für ein bewegendes, starkes Bild!

Diese Geschichte von Selma Lagerlöf hat mich sofort gepackt. Sie entwickelt einen dramaturgischen Sog und der Leser möchte gerne wissen, wohin sie führt. Einmal begonnen, kann man sie nicht wieder aus der Hand legen.
Trotz der Tendenz zum Märchenhaften ist die Sprache ganz klar und ungeziert.
Dieses Buch ist ein kleiner Schatz. Und der Manesse-Verlag würdigt es in dieser schönen Ausgabe.




Mittwoch, 23. März 2016

"Die große Zukunft des Buches" von Umberto Eco und Jean-Claude Carrière


"Wir leben in keiner beschaulichen Gegenwart mehr, sondern wir stehen vor der Anforderung, uns ständig auf die Zukunft vorzubereiten."                              (Umberto Eco † 19.02.2016)


Zunächst bewegt sich dieses Werk zurück ins Kulturgeschichtliche, beginnt mit der Papyrusrolle und dem Kodex, beleuchtet also die ersten Bestrebungen, Schriften zu hinterlassen. In der heutigen Zeit angekommen werden die Vor- und Nachteile der Digitalisierung und der elektronischen Lesegeräte diskutiert. Zum Gespräch zusammengekommen sind Umberto Eco und Jean-Claude Carriére, zwei kluge alte passionierte Leser und Büchersammler, und sie fesseln ob ihrer Gelehrtheit und ihrer Begeisterung für das Kulturgut Buch. Lehrreiche Exkurse zu Buchreligionen, Inkunabeln und in den Zauber altertümlicher Bibliotheken fesseln den Leser und darüberhinaus lauscht man den beiden Bibliophilen auch gerne, wenn sie einfach von der Lust am Lesen (die zur "regelrechten Perversion" werden kann), vom Schwindel beim Anblick von Bücherwänden und der Liebe zu einem besonderen Sammlerstück sprechen. Wissen gepaart mit Leidenschaft. Das macht dieses Buch aus.

Beide sind sich gewiss: das gedruckte Buch wird nicht "aus unseren Häusern und unseren Gewohnheiten" zu verdrängen sein. Die Lektüre an Bildschirmen und der Lesestoff in der Hand werden immer nebeneinander Bestand haben.

"Zusammengerechnet besitze ich an meinem Hauptwohnsitz und an verschiedenen Nebenwohnsitzen insgesamt fünfzigtausend Bücher." (Umberto Eco)

www.youtube.com/watch?v=UoEuvgT1wBs


"Der Leuchtturm" von Jean-Pierre Abraham



"Ist mein Leuchtfeuer klar, sind auch meine Gedanken etwas klarer."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Sieben Monate, von November bis Mai, verbringt der Erzähler Jean-Paul auf dem Leuchtturm ArMen vor der bretonischen Küste. Sein Aufenthalt ist von nur seltenen Landgängen unterbrochen. In Form eines Tagebuchs hält er das Leben dort fest, die täglichen Arbeiten, den Kampf gegen die Unbill des Wetters und die Auseinandersetzung mit Kargheit und Einsamkeit. Dienst wird im Zweimannbetrieb übernommen, die Arbeiten werden gemeinsam ausgeführt und gegessen wird zusammen, aber darüber hinaus ist jeder für sich und ringt mit seinen Stimmungen. Vor allem befindet man sich in Auseinandersetzung mit dem Wetter. Kommt es zu tagelangen "Verfinsterungen", wirkt sich dies auf das Gemüt aus.

"Ich aber brauche Licht, giere förmlich nach Licht."

Die Männer haben aber auch das Gefühl "am wahren Platz zu sein ... immer, wenn sie auf den Leuchtturm zurückkehren, "ist ArMen eine Heimkehr".

... ein Zitat

"Eine Welle nach der anderen schien kurz innezuhalten, wogte alsdann heran, türmte sich hoch, ehe sie mit erstaunlicher Geschwindigkeit am Leuchtturm zerbarst. Sie verschwand unter der Galerie. Den Aufprall hörten wir nicht, doch die Laterne begann zu vibrieren. Augenblicke später peitschte ein weißer Schwall gegen die Fensterscheiben, prasselte auf die Kuppel hernieder, schneeweißes Licht umhüllte uns. Wir waren wie trunken."

... das bewegte Herz

"Friedliches Rauschen" und "Meerestosen" und Jean-Pauls Innenwelt, die sich darin spiegelt.

... die Sprache

Sehr klangvoll, lyrisch. Kurze Sätze, so als müsste viel in kurzer Zeit notiert werden. Eine Sprache, die passt und die ich gerne gelesen habe.

... der Autor

Jean-Pierre Abraham hat tatsächlich drei Jahre als Wärter auf dem Leuchtturm ArMen (bretonisch: Der Felsen) verbracht. Das Tagebuch gibt diese raue Zeit wieder.


"Die Verwundung und andere frühe Erzählungen" von Heinrich Böll


" ... es war eine prachtvolle Verwundung, wie gemalt, es würde mindestens vier Monat dauern, ehe das Loch zu war, dann war der Krieg zu Ende."

Heinrich Böll

Im Sommer 1939 schreibt sich Heinrich Böll an der Universität Köln als Student ein, kurz darauf wird er zur Wehrmacht einberufen. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs bleibt er verpflichtet, zunächst nur im Telefon- oder Wachdienst, doch in den letzten zwei Kriegsjahren muss er an die Ostfront. Nach eher leichten Verletzungen hat er das Glück, sich ins Lazarett und zur Genesung zurückziehen zu dürfen. 
In der Endphase des Krieges unternimmt er den Versuch zu desertieren, wird aber aufgehalten und wieder einer Einheit zugeführt.

Nach dem Krieg beginnt Böll unter dem Eindruck des Selbsterlebten mit dem Schreiben, versucht das Grauen in Sprache zu fassen, benennt den Wahn, die Schuld und Verantwortung Deutschlands und setzt sich mit der moralischen Not auseinander, in die er selbst geraten war.
In seinen Kurzgeschichten beschreibt er das Leben und Sterben der Soldaten an der Front und den Hunger in den Trümmern der Nachkriegszeit.

Nach dem Tod von Heinrich Böll wurde in enger Kooperation mit der Erbengemeinschaft in der Stadtbibliothek Köln eine Chronik zu Leben und Werk des Autoren aufgebaut. Unter anderem ist das Original-Arbeitszimmer von Heinrich Böll zu sehen.


Das Buch

Die Geschichten in diesem kleinen Band erzählen bewegend von Soldaten, die in einem Krieg kämpfen, hinter dem sie nicht stehen. Viele wünschen dem eigenen verhassten Leutnant den Tod oder gar sich selber, um dem Wahnsinn zu entkommen. Von "Menschenmetzgern" ist die Rede und von Schweinen, die den Krieg angefangen haben ... Eine Verwundung wird als "prachtvoll" betrachtet, denn sie bedeutet eine Auszeit im Lazarett. Die Männer möchten keinen Heldentod sterben, pfeifen auf die Tapferkeit. "Beißend und böse" quält sie der Hunger, gleich "wölfischer Gier". Auch nach dem Krieg ist der Hunger stets präsent. Heinrich Böll erzählt zum Beispiel die Geschichte eines Sechzehnjährigen, der versucht sich umzubringen, weil er die Lebensmittelkarten seiner Familie verloren hat.
Die Erzählungen beeindrucken als Dokument eines Krieges, der nicht verdrängt werden darf. Frühes Mahnwerk des Antikriegsliteraten Heinrich Böll. 




Montag, 14. März 2016

"Der Überläufer" von Siegfried Lenz


"Man muss die Kraft haben, einer Sache, der man zwanzig Jahre nachgelaufen ist, einen Fußtritt zu geben, wenn man einsieht, dass diese nicht nur falsch, sondern gemein, hinterhältig, gefährlich und mörderisch ist."


Dieses Buch ist eine kleine Sensation, denn bereits vor fünfundsechzig Jahren geschrieben, ist es jetzt erst vom Hoffmann und Campe Verlag herausgegeben worden. Der Verlag räumt ein, Siegfried Lenz damals die Veröffentlichung verweigert zu haben, da das politische Klima es verbot. Zu brisant schien die Thematik des Überlaufens von der deutschen Wehrmacht zur Roten Armee.

Im Roman ist es Walter Proska, fünfunddreißig Jahre alt, der beschließt die Fronten zu wechseln. Zunächst ist er einer kleinen Einheit zugehörig, die im Wald verschanzt regelmäßig ihre Soldaten auf Patrouille schickt, um eine Bahnlinie zu bewachen. Die Lage scheint schier aussichtslos, die Befehle des vorstehenden Kommandanten werden zu Hohn und Willkür. Einige der Kameraden kommen in der aberwitzigen Raserei zu Tode, andere enden im Wahnsinn. Walter freundet sich mit dem Studenten Wolfgang an. "Ich weiß, du hast gelehrte Läuse im Kopf", flüstert er beeindruckt und lauscht Wolfgangs Worten, die falsche Vaterlandsliebe an den Pranger stellen und "aktiven Pazifismus" beschwören. Besser sei man "ein Überläufer, ein Schwein, ein Verräter" als ein Soldat ohne Selbstachtung. Erst wenn man den Wahn des "Deutschen Hochmuts" bekämpft, kann man sich auf der Seite der Gerechten wiederfinden.

Diese Worte, die Proskas Kamerad spricht und die Proska schließlich bewegen, tatsächlich ins Lager der Partisanen zu wechseln, machen offensichtlich, warum der Hoffmann und Campe Verlag 1951 Bedenken äußerte und Siegfried Lenz' Vorlage nicht druckte. Im Anhang des nun erschienenen Buches veröffentlicht der Verlag den damaligen Schriftwechsel mit dem Autoren Lenz, um dem Leser nichts vorzuenthalten.
Diese Umstände haben sicher viele neugierige Leser auf den Plan gerufen, denn es ist beachtlich, wie rasch die Verkaufszahlen dem Roman Platz eins auf der Spiegelbestsellerliste beschert haben. In meiner Jugend verschlang ich einige Werke (allen voran natürlich "Die Deutschstunde") dieses großen deutschen Schriftsteller der Nachkriegsliteratur. Ob durch die Pressemitteilungen vielleicht jetzt auch jüngere Leser auf ihn aufmerksam geworden sind? Das würde die nun bereits dritte Auflage erklären. 

Siegfried Lenz verarbeitet in seinem Antikriegsroman höchstwahrscheinlich eigene Erlebnisse, denn kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs desertierte der Autor in Dänemark aus der Marine.

Mit der Figur des Walter Proskas schafft er einen sympathischen nachdenklichen Protagonisten, der in der ohnehin recht schrulligen Wehrmachtseinheit gar etwas burlesk rüberkommt. Beängstigende Szenen sind so lapidar-derbe und zynisch-mitleidslos geschildert, dass der Leser etwas Abstand nehmen kann zu dem Unvorstellbarem. 
Nichtsdestotrotz ist natürlich die Not des Proskas präsent, der die Waffe auf den Feind richtet und abdrückt, um selber zu überleben.

"Aber ich bin hier; und es ist Krieg und wir beide, du und ich, haben uns danach zu richten. Wir haben dem Krieg zu gehorchen, auch wenn wir ihn hassen wie die Pest. Schließlich möchten wir ja beide leben, du und ich, und wer im Krieg leben bleiben will, hat an nichts anderes zu denken als an sein Blut." 

Ganz großen Kummer verspürt er, als ein Mensch, der ihm nahe steht, durch seine Hand zu Tode kommt.

Der Roman schenkt uns auch eine Liebesgeschichte, die im tröstenden Kontrast zum geschilderten Grauen steht. Proska lernt die Partisanin Wanda kennen und lieben. Es bleibt die Frage, ob Wanda den Krieg überlebt und die beiden sich wiedersehen. Wanda trägt sein Kind unter ihrem Herzen ...

Sprachlich haben mir vor allem die Gemüts- und Landschaftsbeschreibungen gefallen. Proska schaltet im Anblick der Natur ab, genießt Stille und Zurückgezogenheit. Derweil lauert der Feind hinter dem Kadick ...
"Kadick" war mir gänzlich unbekannt ... Für die Leser, denen es genauso geht: es handelt sich um Wacholder!


Montag, 7. März 2016

"Vom Ende der Einsamkeit" von Benedict Wells



" Eine schwierige Kindheit ist wie ein unsichtbarer Feind, dachte ich. 
Man weiß nie, wann er zuschlagen wird."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Im Mittelpunkt dieses Romans steht ein junger Mann, der nach einem Motorradunfall sein Leben Revue passieren lässt. In jungen Jahren die "rauschhafte, alberne Unbeschwertheit" der Kindheit und dann die Zunahme von Ängsten, zuallererst ausgelöst durch den Verlust seiner Eltern. Jules kommt mit elf Jahren zusammen mit seinem Bruder und seiner Schwester ins Internat, doch werden die Geschwister dort getrennt und jeder muss für sich alleine den Tod der Eltern verarbeiten. Jules trägt besonders schwer daran, wird zu einem Einzelgänger und verträumten Eigenbrötler. Nur Alva, eine Klassenkameradin, scheint ihm seelenverwandt und Jules öffnet sich ihr ganz zaghaft. Alva kann seine Liebe nicht erkennen und die beiden verlieren sich nach der Schule aus den Augen. Jahre müssen vergehen, bevor sie sich wiedersehen und zu dem Zeitpunkt ist Alva bereits verheiratet ...

Inhaltlich hat dieser Roman die Dimension eines echten Schmökers, beschränkt sich aber auf etwa dreihundertfünfzig Seiten und die Ereignisse drängen sich. Mit Alva und Jules geht es nach dem Wiedersehen fesselnd und voller Emotionen weiter und es wird gar sehr traurig. Große Themen wie Verlust und Trauer werden berührt, aber auch Mut und die Überwindung von Angst. Von Gewicht ist der Rückblick in die Kindheit und die Frage, ob Brüche in dieser frühen Zeit überhaupt gänzlich verarbeitet werden können. Kann man Ängste in den Griff bekommen oder müssen sie sich zwangsläufig "wie ein sich ausbreitender Riss" vergrößern? Könnten die schönen und tragischen Begebenheiten im Leben ein "Nullsummenspiel" ergeben? Und macht es Sinn, im Leben nachträglich über Weichen nachzudenken, wenn man doch so und so nicht zurück gehen und einen anderen Abzweig nehmen kann.
Benedict Wells ist gerade mal einunddreißig Jahre alt und in seinem Roman findet sich überraschend viel Weisheit und Intuition in Problem- und Lebensbewältigung. 

Allerdings wirkt mir das Werk etwas überfrachtet, als hätte Benedict Wells sich sehr viel für seinen Roman vorgenommen und auf keine der großen Lebensfragen und Antworten verzichten wollen.
Und leider bin ich mit dem Schlussakkord nicht ganz glücklich, ich möchte sagen ein Ende, dem ich nicht traue ... es kommt mir zu leichtfüßig daher nach der schweren Kost.

Trotzdem kann ich eine Leseempfehlung aussprechen, denn der Roman hat ansonsten Tiefe und ist sowohl im Aufbau als auch sprachlich eine Freude.

... ein Zitat

"Es gibt Dinge, die ich nicht sagen, sondern nur schreiben konnte. Denn wenn ich redete, dann dachte ich, und wenn ich schrieb, dann fühlte ich. Wir lagen auf meinem Bett. Alva biss in einen Apfel und überflog die Zeilen. Gespannt sah ich zu. Einmal musste sie beim Lesen lachen, und da fühlte ich mich wie auf einer nächtlichen Straße, auf der schlagartig alle Laternen angegangen waren. Irgendwann schlief ich ein. Mitten in der Nacht kam ich kurz zu mir, da las Alva noch immer neben mir, sie schien mitgenommen und sagte, der Text würde ihr sehr nahe gehen."


... das bewegte Herz

Benedict Wells versteht es sehr gut, Gefühle lebendig zu machen. 
Während die Liebe zu Alva mir schon fast zu pathetisch ist (auch wenn Benedict Wells sagt, das Pathetische läge ihm fern), bin ich höchst fasziniert, wie er die Geschwister kommunizieren lässt. Sie suchen mal die Nähe, mal den Abstand, begegnen sich mit Wertschätzung und pflegen einen flammenden Austausch. Die Dialoge haben mich sehr bewegt. 

... die Sprache

Zart und poetisch, dabei fließend und leicht zu lesen. Sehr schöne Bilder.