Dienstag, 23. Februar 2016

"Ein untadeliger Mann" von Jane Gardam



"Eines Tages wirst du es irgendjemandem erzählen müssen."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Der untadelige Mann dieses Romans ist Edward Feathers, ein erfolgreicher Anwalt im Ruhestand, der nach dem Tod seiner Frau erstmals Erinnerungen an frühere Zeiten zulässt. Verdrängtes und Verschüttetes meldet sich, drängt ins Bewusstsein. So erfährt der Leser von seiner Geburt in Malaysia, wo er nach dem Tod seiner Mutter von einer Amme und einer Missionarin liebevoll umsorgt wurde, derweil sein Vater nur Desinteresse für ihn übrig hatte. Als Edward viereinhalb Jahre ist, schickt ihn sein Vater nach England in eine Pflegefamilie, damit er Englisch lernen und eine Schule besuchen kann. Der Leser erfährt von Edwards Jugend, seiner Zeit im Internat, beim Militär und von seinen Studienjahren in Oxford. Zwischendurch springt die Geschichte wieder in die Istzeit und wir begleiten Edward in seinem alten klapprigen Mercedes auf eine wunderlichen Reise hin zu Verwandten und Vertrauten, mit denen er "in kleinen Häppchen die Vergangenheit kommen" lässt. Es mehren sich Hinweise auf schreckliche Vorgänge in Edwards Pflegefamilie ...

Und so löst sich das Tadellose des Protagonisten auf. Denn damals tat er Unvorstellbares ...

Das klingt nach schwerer Kost, doch ist der Protagonist mit viel Humor gezeichnet. Edward hatte immer die höchsten Ansprüche an sich selber. Diesen Perfektionismus hat er lange gepflegt und verkörpert ... bis die Vergangenheit ihn einholt und sein selbstgemeißelter Sockel zu kippeln beginnt.
Edward alleine ist es schon wert, dieses Buch zu lesen. Eine wunderbar geschaffene Romanfigur mit dem richtigen Maß an Tragik und Witz.

... ein Zitat

"Wie er so neben dem Grab stand und auf sein langes Leben mit Betty zurückblickte und daran dachte, wie gut er es geschafft hatte, der Welt einen ganzen Mann zu präsentieren, einen vollständigen, erfolgreichen Mann ... da bemerkte er irgendetwas, irgendwo. Er sah in den Himmel. Da war nichts, und doch wurde ihm unmissverständlich klargemacht, dass etwas in ihm ungelöst war. Er war unzulänglich und schwach. Wenn das herauskam, würden sie ihn alle nicht mehr mögen. Verachten. So sieht es aus."

... das bewegte Herz

Die Verschwörung der Kinder in Ma Didds Haus. Wie Aberglaube und Fantasy sie stark machen. Sehr berührend!

... die Sprache

Eine ruhige, besonnene Sprache, die gut zum Protagonisten passt. Jeder Satz bedacht und trotzdem langweilt sie nicht. 

Dienstag, 16. Februar 2016

"Weiter als der Himmel" von Pippa Goldschmidt


"Familien, denkt sie, sind wie schwarze Löcher. Man kann ihnen nicht entkommen."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Jeanette hat nach ihrem Studium der Astrophysik das große Glück, eine der sehr begehrten Dozentenstellen zu bekommen. Damit schafft sie endgültig den Sprung weg von Zuhause, einem Elternhaus, das für sie einem "außerirdischen Vakuum" gleicht. Ihre Eltern leben in sich gekehrt, sind teilnahmslos und schweigsam. Selbst bei gemeinsamen Mahlzeiten kommt es nicht zum Gespräch. Der Vater sucht außereheliches Glück und die Mutter schaut nur Fernsehen und "wartet darauf, dass man ihr die Zukunft bringt, weil die Gegenwart so unerträglich ist." Das Unglück erfasste die Familie damals wie ein Urknall: Jeanettes Schwester ertrinkt beim Training im Schwimmbad ...

Jeanette, die als Wissenschaftlerin alles rational erklären kann, stößt hier an ihre persönliche Grenze. Kates Tod kann sie nicht ableiten, nicht analysieren und nicht in einem Paper beschreiben.
Sie flüchtet beruflich in ihre Himmelsbeobachtungen, beschäftigt sich zum Beispiel mit Voids, sogenannten "Leerstellen" im Universum, die weder Licht noch Materie aufweisen.
Zur selben Zeit leidet Jeanette persönlich unter einer weiteren Leerstelle: Paula, mit der sie eine leidenschaftliche lesbische Liebe verbindet, verlässt sie.

Jeanette räumt in ihrem Leben auf, setzt sich mit ihren Eltern auseinander und mit Kates Tod und lernt, auch Unwägbarkeiten in ihrem Leben zu akzeptieren. Es lässt sich nicht alles berechnen. "In einer unsicheren Zukunft liegt auch eine Chance." Es ist die Astrophysik, die ihr letztendlich den Weg weist. "Nur vier Prozent des Universums sind sichtbare Materie", der Rest liegt im Dunkeln. Jeanette begibt sich auf eine neue Umlaufbahn, stellt sich dem, was kommen mag.

Pippa Goldschmidt ist Astronomin und es gelingt ihr, in diesem Roman Zweierlei in Bezug zu setzen: die wissenschaftliche Suche nach Materie im Universum und die persönliche Suche nach Glück im Weltraum des Lebens. Sie projiziert das eine ins andere und das macht sie gut.
Sprachlich hantiert sie dabei leider etwas sperrig und knapp.

... ein Zitat

"Es ist ein strahlender Tag, die Ginsterbüsche auf dem Hügel verbreiten Mandelduft. Das Observatorium erhebt sich über der steilen Grasböschung. All das ist so wie ein normaler Tag. Sie kann die Vögel über ihr hören. Sie kann ihre Kollegen und die Studenten in der Ferne sehen, aber sie nähert sich ihnen nicht. Seit der Konferenz in der letzten Woche sind Menschen für sie problematisch. Stille liegt schwer auf ihrer Zunge. Sie weiß nicht, wann sie das letzte Mal gesprochen hat."

... das bewegte Herz

Das bedrückende Zuhause, das Schweigen und Aussitzen. Das Ausbleiben von Liebe und daraus resultierend Jeanettes Beziehungsunfähigkeit.

... die Sprache

Ein paar schöne Sequenzen machten mit Freude, aber unterm Strich ist es eine sachlich kühle Sprache, die mich nicht recht zu begeistern vermag. Kurze Sätze, die aneinandergereiht wirken



Dienstag, 9. Februar 2016

"Der Mann, der das Glück bringt" von Catalin Dorian Florescu



"Enttäuschend ist etwas erst, wenn man es so sieht, hat Großvater mir einmal erklärt."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

In diesem Werk beweist Catalin Dorian Florescu mal wieder, was für ein begnadeter Erzähler er ist. Im Mittelpunkt stehen Ray und Elena. Beide wachsen in schwierigen Familienverhältnissen auf, drohen über Jahre nur die Erwartungen anderer zu erfüllen und sind geprägt von starren Geboten in Kultur und Glaube. In Elenas rumänischer Heimat im Donaudelta spielt der Aberglaube stark mit und gar der Teufel steht in der Tür. Rays Großvater gerät unter die Fittiche eines Juden, der seine Gebräuche streng auslebt. Vieles wird bis in die Generation von Ray und Elena fortgetragen und prägt die beiden. Sie versuchen sich zu befreien, üben sich in der Glückssuche, aber das Leben hält viele harte Schicksale für sie bereit. Florescu schreibt mit einer prallen Phantasie, die Freude bereitet. Ich empfinde einen Sog und ein Entsetzen ob der Vorkommnisse und habe doch keinen Lesemoment lang das Gefühl von Überzogenheit. Ja, so könnte es gewesen sein, denke ich wahrhaftig und jubel ob der Schöpferkraft und Ingeniosität des Autoren.
Abwechselnd werden die Familien von Ray und Elena aufgeblättert, beginnend in den Generationen ihrer Großeltern. Rays Großvater wächst in New York auf, Elenas Mutter in einem kleinen Dorf nahe des Schilfgürtels im Donaudelta. Diese beiden Antipoden schenken dem Roman viel Reiz, auf der einen Seite die rauschende Metropole, auf der anderen Seite die Beschaulichkeit von Natur und ihrer Isoliertheit.
Der Buchtitel bezieht sich auf  Ray, der es seinem Großvater gleich tun möchte. Letzterer trat in Theatern, Museen und Bars als Sänger auf und verzauberte mit seiner Stimme das Publikum. Er wollte stets zur "Welt der Theaterbühnen und des frenetischen Applauses" gehören.
Ray und Elena lernen sich erst kennen, als Elena nach New York kommt. Beide tragen ihre Vergangenheit und Herkunft in bzw. bei sich. Ray in seiner Berufung zu Varieté und Gesang, Elena mit einem Einmachglas in der Hand, in dem sie die Asche ihrer Mutter nach Amerika bringt. Es ist die Nacht der brennenden, einstürzenden Zwillingstürme, in der Elena in Rays kleinem Theater Zuflucht sucht. Die beiden erzählen sich ihre Geschichte, wobei Ray für Elena zunächst rätselhaft bleibt. Immer wieder versteckt er sich hinter seinen Kostümen und Parodien. Elena nimmt ihn an die Hand und mit nach Rumänien. Langsam öffnet sich Ray, findet zu sich selbst und zu Elena. Das Ende des Buches ist rund und doch nicht von einfältiger Seligkeit. Nach einer Geschichte über drei Generationen und zehn Jahrzehnten gelingt Florescu ein bewegender Schluss.

Unbedingt lesen!

... ein Zitat

"Er wollte sich einmal richtig Zeit nehmen, um sich eine gute Geschichte auszudenken. Eine, die dann seine eigene sein würde. Vorläufig aber genügte ihm zu wissen, dass er ein Mensch und ein Amerikaner war. Ein hungriger Amerikaner. Ein Drittes wusste er auch: dass er kein Sohn war. Wenn er sich in manchen Nächten in einer billigen Absteige, einem Fünf-Cent-Hotel, an den Rücken seines Nachbarn drückte und wegen der Hitze oder der Kälte nicht einschlafen konnte, dachte er: "'dammt, so einen wie mich kann es gar nicht geben. Wo komme ich bloß her?" Solange er nachgrübelte, fielen ihm kein Vater und keine Mutter ein."

... ein bewegtes Herz

Viele Figuren in diesem Roman haben mich berührt. Neben Ray und Elena sind es vor allem Elenas Großeltern, die in einem beängstigenden Aberglauben leben und ihre Mutter, die an Lepra erkrankt.

... die Sprache

Fließend, fabulierend und ausdrucksstark!

Das Cover des Buches spricht mich sehr an. Ihm zugrunde liegt ein Foto von Alper Yesiltas. Auf dem ursprünglichen Motiv ist im Hintergrund eine verschwommene Seenlandschaft zu sehen.
Für das Cover hat der C.B. Beck-Verlag das Foto bearbeiten lassen und stattdessen die New Yorker Skyline gewählt. Toll!

Ich danke dem C.H. Beck-Verlag für die Zusendung des Vorableseexemplars!


"Moby Dick" von Herman Melville


"Sein Sinn aber lechzte nach verwegener, maßloser, übermenschlicher Vergeltung."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Grob umrissen ist die Geschichte sehr wohl bekannt, handelt es sich doch hierbei um einen Klassiker der Weltliteratur und ein Werk, das bereits mehrfach verfilmt worden ist. Manch einer mag die Filme kennen, hat aber aufgrund der hohen Seitenzahl noch nicht zum Buch gegriffen.
Für mich war es keine Seite zuviel. In den spannenden Walfang webt Melville hochinteressante Kapitel zum Verhalten, zur Anatomie, Zoologie und Nutzung der Wale. Er geht sehr ins Detail, widmet sich darüberhinaus auch noch philosophischen Aspekten, lässt Gott und die Welt einfließen, schlägt den Bogen zu Kunst, Schöpfung und Schönheit von Natur und Kreatur. Ein weiser Autor beweist sich hier den Lesern und mutet gar an wie ein Prophet. So beginnt auch sein Roman:
"Nennt mich Ismael."
Ismael ist noch "uneingeweiht in die Mysterien des Walfangs", ein einfacher Seemann, der auf der Pequod mit einer gewissen Sehnsucht nach Abenteuer und Verwegenheit, sowie dem "Wunder der Weite" anheuert. Es liegt ihm fern an das Blutrünstige zu denken, vielmehr betrachtet er die Expedition als eine Art Ehrfurchtsbezeigung und singt ein Hohelied auf die Würde dieser göttlich kolossalen Meeresbewohner.
Erst auf hoher See wird er des Kapitäns Ahab wirklich gewahr, erkennt in ihm mehr den "Dämon als Menschen" und sieht tiefes "Schattendüster über des alten Mannes Antlitz". Der Leser erfährt, dass Ahab bei einem vorherigen Kampf mit Moby Dick ein Bein verloren hat und nun auf Rache sinnt, also grimmigen Vergeltungskrieg führen möchte.
Gegen Ende des Buches (bis dahin hat sich für mich eine erhebliche Spannung aufgebaut) jagt Ahab den weißen Wal über drei Tage und nimmt in Kauf, dass dieser die Pequod rammt und samt Besatzung im Meer versinken lässt.
Einzig einer überlebt, sich klammernd an eine Holzkiste, die ursprünglich vom Zimmermann als Sarg gearbeitet war ...

... ein Zitat

"Und so, durch die selige Klarheit der tropischen See, durch Wellen, deren Rauschen in verzücktem Überschwang verhielt, schwamm Moby Dick und entzog dem Blick noch die vollen Schrecken seines verrenkten Kiefers. Doch bald stieg sein Vorderteil prächtig aus dem Blau, eine Sekunde lang wölbte sich sein ganzer Marmorleib in hohem Bogen gleich Virginiens Felsenbrücke; und zur Warnung sein Banner, die gewaltige Schwanzflosse, in der Luft schwenkend, dass jeder fühlte, hier offenbarte sich der mächtige Gott, tauchte er und war verschwunden. In Kreisen schwebten die weißen Seevögel, netzten im Fluge die Schwingen und zögerten sehnsüchtig über dem aufgewühlten Gewoge, das er hinterlassen hatte."

... das bewegte Herz

Es liegt in den Gedanken Ismaels und der Not der Schiffsbesatzung, die allmählich von Furcht beseelt ist und ahnt, dass sie nicht lebend aus diesem Wahnsinn rauskommt.

... die Sprache

Sie hat Tiefe und glänzt mit Poesie. Als würde sie sich über das Meer erheben und alles weise-mystisch mit Abstand betrachten.