Dienstag, 13. Oktober 2015

"Über den Winter" von Rolf Lappert



               "Die Wintersonne war blass, eine geschälte Orange."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Lennard Salm, ein Performancekünstler in den Endvierzigern, lässt im fernen Süden sein gegenwärtiges Projekt liegen und kehrt heim nach Hamburg, um zur Beerdigung seiner Schwester Helene vor Ort zu sein. Nach vielen Jahren kommt die Familie anlässlich dieses traurigen Ereignisses wieder zusammen. Der Winter spiegelt die Grundstimmung des Romans und seines Protagonisten wieder: frostig und der Himmel meist "schmutzigblau".
In der ganzen Familie herrscht vordergründig eine eher kühle Atmosphäre. Es ist allein Lennards Schwester Bille, die sich über die Jahre ein unbekümmertes Gemüt bewahrt hat. Vielleicht aber sind es auch nur die Joints, mit Hilfe derer sie sich "an ein heiles Familienleben" erinnert und zur "Meisterin im Aufhellen, im Schönreden, im Verdrängen" wird. 
Nach und nach erfährt der Leser mehr von der zerrütteten Familie, für Lennard ein "Elend des Erinnerns". Er verließ damals Hamburg, ging nach New York und gab sich ganz der Kunst hin.

Nun zurück in Hamburg besinnt er sich auf seinen alten Vater, zieht wieder in das Kinderzimmer von damals und möchte bleiben. Aber man könnte sagen, es ist zu spät. Die "große weiße Karte seines zukünftigen Lebens" wartet vergeblich auf Farbe. 

"Über den Winter" ist ein großartiger Roman über die Verdrängung unerfüllter Wünsche, das Aufgeben von Träumen und das Hinterlassen von Spuren. 
Das Trübe und Wolkenverhangene, das in diesem Roman vorherrscht, ist manchmal schwer zu ertragen, aber Rolf Lappert setzt außergewöhnliche Stimmungen in Szene, schafft Orte und Figuren, die ich als Leserin nur ungerne wieder verlasse. Besonders packend für mich: Lennards Vater und sein Wohnraum auf dem Dachboden.


... das bewegte Herz

Lennard, der "seine Mutter verachtet und sich zugleich nach ihr gesehnt hat". Der "Dämmergrund der Kindheit", der ihm zu schaffen macht.

... ein Zitat

"Er meinte das Gewicht des Gebäudes auf sich zu spüren, das Gewicht all der vergeblichen Worte, die darin gefallen waren, die Last der enttäuschten Hoffnungen, das schwerwiegende Glück, das am Ende des Tages so leicht war, dass es verflog. Er fühlte die Anwesenheit seines Vaters, der über ihm am Küchentisch saß und mit einem Bleistift sorgfältig Buchstaben in kleine Quadrate schrieb und gegen das Vergessen ankämpfte, indem er sich an Surinam erinnerte, obwohl er nie dort gewesen war, und an Maniok, das er nie gegessen hatte. "

... die Sprache

Den Leser berührend, gründlich, bildhaft, ausdrucksstark trotz leiser Töne. 


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