Mittwoch, 8. April 2015

"Lügen in Zeiten des Krieges" 
von Louis Begley



"Er bewundert die Aneis. In ihr fand er zum ersten Mal literarisch ausgedrückt, was ihn quälte: die Scham, am Leben geblieben, mit heiler Haut, ohne Tätowierung davongekommen zu sein ..."


Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Der kleine Maciek wächst recht behütet in Polen auf, umsorgt von seinem Vater und seiner Tante Tanja, die sich des Jungen annimmt, als Macieks Mutter im Kindbett verstirbt. Der Vater, ein angesehener Arzt, ermöglicht der Familie ein Leben in Wohlstand. Maciek ist Tanja sehr verbunden, liebt aber vor allem Zosia, das Kindermädchen, denn die ist "weich" und "lachte bei allem".
Außerdem leben die Großeltern mit im Haus, alles in allem eine Großfamilie, in der Maciek sehr glücklich aufwächst.
Doch mit Beginn des zweiten Weltkrieges steht das Leben der jüdischen Familie Kopf. Sie verliert alles an Besitz, der Vater wird nach Russland evakuiert und es beginnt die Zeit der Judenhatz und entsprechend die Flucht in die Lüge.
Die Großeltern, Tanja und Maciek können sich nur mit falschen arischen Papieren retten. Aufenthaltsorte werden zur Vorsicht immer wieder gewechselt und Maciek muss lernen, niemandem zu trauen, immer auf der Hut vor Entdeckungen zu sein, im richtigen Moment zu schweigen und den kleinen jüdischen Jungen in sich zu verleumden. Eine neue Identität wird angenommen und unermüdlich verinnerlicht.
Tanja und Maciek stehen unsagbare Ängste aus und werden Zeuge so manch gewalttätigen Vorgehens, aber sie überleben.

Der Roman hat stark biographische Züge, denn Louis Begley schildert seine eigene Flucht. Abstand musste gewonnen werden, um es dann aus der Warte des distanzierten Erzählers erzählen zu können. So kann man sich auch den meist nüchternen Ton erklären. Die Bilder berühren sehr, aber die Schilderung bleibt meist ohne Empfindung.
Umso mehr Gefühl findet der Leser in den drei kursiv in den fließenden Text gesetzten Einschüben. Louis Begley bezieht sich hier auf lateinische Schriften, zitiert Catull, Vergil und Dante und sinniert über Bestimmung, Schuld, Strafe, Gerechtigkeit, Mitleid und Mut. Seine Gedanken zeugen von einer immer noch währenden Auseinandersetzung mit der erlebten Verfolgung.

... das bewegte Herz

Als Tanja dreißig Kilometer hin und wieder zurück läuft, in der Hoffnung, in einem kleinen fernen Ort, den Großvater wiederzufinden ...

Louis Begley's Reflexion und sinnsuchendes Grübeln in den erwähnten eingefügten Passagen. 

Die letzten Zeilen im Buch, als Louis Begley resümiert. Früher war er Maciek, heute ist er ein Anderer ...

... ein Zitat

"Ich musste mich auf unsere Matratze legen, Tanja wollte es so. Sie legte sich neben mich, nahm mich in die Arme und sprach flüsternd auf mich ein. Ein Glück, dass wir keinen Moment vergessen haben, dass wir katholische Polen sind, und dass niemand Verdacht geschöpft hat, sagte sie. Das sei unsere einzige Hoffnung: genau wie alle anderen zu sein. Die Deutschen konnten nicht alle Polen in Warschau töten, es gab einfach zu viele, aber bestimmt jeden Juden, den sie erwischen konnten. Wir wollten uns ganz klein und unauffällig machen und genau aufpassen ..."

... die Sprache

Sehr nüchtern, sachlich und direkt.
Aber sehr verwandelt, wenn Louis Begley in sich reinhorcht und nach Antworten sucht. Hier lese ich Poesie und erfreue mich der Sprache. Sie fordert mich allerdings, öffnet sich mir nicht sofort. Mit den alten Lyrikern und Epikern bin ich nicht besonders vertraut. 

Es ist bewundernswert, wie es dem Autoren gelingt, nochmal in den kleinen Maciek zu schlüpfen. Ein beeindruckendes Zeitdokument, das zu lesen ich sehr empfehle.

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