Sonntag, 27. Dezember 2015

"Wohin der Wind uns weht" von Joáo Ricardo Pedro


"Nicht ich habe angefangen, Klavier zu spielen. Das waren meine Hände."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Die Handlung in diesem Roman entwickelt sich in einzelnen Episoden und springt in Zeit und Raum über drei Generationen. Das Gewicht liegt auf Duarte Mendes, der schon als kleiner Junge die große Kunst des Klavierspielens beherrscht, zunächst mit viel vermeintlicher Leidenschaft, bis das Leiden überwiegt und er sich von dieser Kunst abwendet. Er ist der jüngste Spross in einer bewegten Familiengeschichte, die in einem abgelegenen Dorf in Portugal zu Hause ist. Als besonders starke Persönlichkeit glänzt sein Großvater Augusto, ein Aussteiger und Arzt, der am politischen Geschehen teilnimmt und die Ablösung der Diktatur in Portugal ersehnt.
Sein Sohn Antonio, Duartes Vater, kämpft als Soldat in Angola und kehrt als gebrochener Mann zurück. Duarte trägt an der Last in dieser Familie und erfährt brutale Züchtigung durch seinen Vater.

Das Herzstück dieser weitgestreckten Geschichte ist die Magie der Kunst, zum einen, was sie im Kunstschaffenden anstößt, aber auch im Betrachter und Zuhörer. Kunst weckt Gefühle, man kann sich in ihr wiederfinden und spiegeln. Der Leser taucht nicht nur in die Welt der Musik ein, sondern auch in die der Malerei. Ein Gemälde von Bruegel rückt ins Zentrum. Starke Szene!

Stellenweise reagiere ich mit Verwirrung und zunächst Unverständnis, wenn ein neues Kapitel Verbindungen herstellt, die nicht sofort einleuchten. Einiges bleibt rätselhaft, doch ich möchte dieses Werk trotzdem empfehlen. Eine Herausforderung, die glücklich macht!

... ein Zitat

" Duarte kannte diese Musik von innen her. War völlig vertraut mit ihr. So, wie man das Haus kennt, in dem man wohnt, wo man selbst im Dunkeln oder mit geschlossenen Augen seinen Weg findet. Nur von Erinnerung geleitet. Von einer Erinnerung, die eigentlich gar keine war. Eher ein Erkennen. Denn wenn Duartes Finger begannen, ein bestimmtes Beethoven-Stück zu ertasten, so taten sie das, selbst beim ersten Mal, nie - und das galt für jedes Beethoven-Stück - mit der Begeisterung des Entdeckers, mit der Erregung desjenigen, der sich in ein Abenteuer stürzt, sondern mit der Gelassenheit eines Menschen, der sich in einem angenehm vertrauten Raum bewegt."

... das bewegte Herz

Starke Szenen haben mich gepackt und bewegt und die geschaffenen Figuren begeistert. Ganz tief durfte ich in ihre Qualen blicken.
Und ich bin auf viele Sätze gestoßen, die es wert waren, notiert zu werden.
"Waise zu sein, heißt, für immer an einem Caféhaustisch zu sitzen und zu warten."

... die Sprache

Sie glänzt mit hochpoetischen Passagen. Aber Joáo Ricardo Pedro experimentiert auch gerne, fügt kurze abgehackte Sätze ein, sobald es zur Dramaturgie passt. Er ist ein ganz großer Erzähler.
"Sehnsucht nach Sibirien" von Per Petterson



"Ich bin dreiundzwanzig, das Leben ist vorbei. Jetzt kommt nur noch der Rest."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Eine Geschwisterliebe in einem dänischen Dorf am Meer. Das Mädchen ist die Icherzählerin, vierzehn Jahre alt, ihr Bruder Jesper ist drei Jahre älter. Die beiden haben ein ganz besonders inniges Verhältnis, nehmen Zuflucht zueinander, wenn es in der Familie schwierig wird. Großvater, Mutter und Vater tragen alle ein Problempäckchen mit sich rum, sind wohl herzlich mit den Kindern, aber oft in ihrer Empathie sehr eingeschränkt. Die dänische Landschaft kommt wie ein Idyll rüber, aber es braut sich was zusammen, wie der Leser unschwer erkennt. Der Großvater hängt sich auf, die Mutter flieht in Choräle und das fromme Klavierspiel und die Nazis marschieren in Dänemark ein. Jesper, der bei einer Lokalzeitung arbeitet, macht Stimmung gegen sie und begibt sich somit in Gefahr.
Bruder und Schwester träumen sich weg. Jesper möchte gerne nach Marokko, sie dagegen fantasiert von Sibirien, möchte dort leben, wo die Transsib fährt und es "warmen Tee aus dem Samowar" gibt.
Das Leben trennt die beiden, denn Jesper flüchtet schließlich vor der Verfolgung durch die Nazis und sie vermag nicht ohne ihn zurückzubleiben. Sie reist nach Norwegen, Schweden und durch Dänemark (immer auf der Suche nach Liebe und Glück) und macht sich erst, als sie Nachricht von Jesper (der es tatsächlich nach Marokko geschafft hat) erhält, zurück auf den Weg Richtung Heimat, um dort ihren Bruder wieder zu treffen ...
Was die nächsten Seiten an Unvorhergesehenem bringen, möchte ich hier nicht vorwegnehmen ...

Sie zieht auf Læsø zu einer Freundin, um dort in angenehmer Abgeschiedenheit ihr Kind zur Welt zu bringen. Das Idyll gaukelt mir Glück vor (Schafherde, Holzofen in der Küche, Spaziergänge am Meer, Fischereihafen), aber in ihr ist immer noch großer Schmerz und Bedrückung.
Ich möchte definitiv eine Leseempfehlung aussprechen. Die Melancholie ist nicht dramatisch- aufgesetzt, sondern sie kommt sehr still daher und ist eine wahre Perle in diesem Buch von Per Petterson.

... das bewegte Herz

Der Schlusssatz: "Poker lief am Wasser entlang mit einem Möwenflügel in der Schnauze, und ich war damals so jung, und ich erinnere mich, dass ich dachte: Ich bin dreiundzwanzig, das Leben ist vorbei. Jetzt kommt nur noch der Rest."

... ein Zitat

"Du musst vorausplanen, Schwesterherz, du musst dir im voraus Gedanken machen", aber das tat ich selten. Ich wusste, dass ich einmal aus dieser Stadt wegwollte. ich wusste, dass ich mit der Transsibirischen nach Wladiwostok wollte, aber ich wusste nicht immer, warum ich die Dinge tat, die ich gerade tat.
Ich zog mir die warmen Sachen an und knotete den Schal dicht um den Hals, und zusammen gingen wir die Hauptstraße hinauf und vergaßen, dass wir zum Abendessen zu Hause sein sollten. Ich hielt Jesper an der Hand, auch wenn ich wusste, dass er sich dafür zu groß vorkam ..."

... die Sprache

Eine sehr stille warmherzige Sprache. Schöne Wort- und Landschaftsmalerei.






"Der Buchhändler von Archangelsk" von Georges Simenon


"Endlich merkte er, dass er ein Fremder war, ein Jude, ein Einzelgänger, einer vom anderen Ende der Welt ..."

Es bleibt in Erinnerung ...

...die Story

Jonas Milk, gebürtig aus Archangelsk in Russland, eröffnet nach einigen Jahren im europäischen Exil in einer französischen Kleinstadt ein Buchantiquariat. Neben Büchern gilt seine Liebe der Philatelie und als er Gina kennenlernt und heiratet, auch seiner jungen attraktiven Frau. Gina ist gebürtig aus der Ortschaft und mit ihr erfährt Jonas bürgerliche Anerkennung und ein Dazugehörigkeitsgefühl. Bis Gina verschwindet und Jonas feststellen muss, dass die Nachbarn ihm, dem Juden und Russen, mit Argwohn begegnen. Das verstärkt sich, da von Gina jede Spur fehlt und er sich aus lauter Scham in Lügen verstrickt. Nach einer Vorladung im Polizeipräsidium wird sein Haus durchsucht und Jonas gerät immer mehr in Erklärungsnot. Seine größte Pein sind die Anfeindung, die boshaften Blicke und die Meidung seiner Person.
Eine Tages meldet sich unerwartet eine Zeugin und Jonas kann auf Entlastung hoffen, aber er ist schon zu sehr in quälender Gram versunken ...

... das bewegte Herz

Jonas, der stille unauffällige Buchhändler, der sich integriert wähnte und erst im Unglück wach wird: stets ist er der Einsame und Sonderbare geblieben, ein Mensch "von einem andern Planeten". Sein Kummer, der damit einhergeht, bewegt.

... ein Zitat

"Die Bücherkästen, die er morgens auf dem Bürgersteig anbrachte, waren bereits hereingeholt. Einige Bände hatte er umgestellt - ohne triftigen Grund, einfach um die Farben der Umschläge aufeinander abzustimmen.  Er hatte das Licht angedreht. Überall waren Bücher: auf den bis zur Decke reichenden Gestellen sowie stapelweise auf dem Ladentisch und auf dem Boden in den Ecken ...
Sie hatte ihn gerade verlassen, und ihn schwindelte."

... die Sprache

Georges Simenon versteht es mit eher kurzen einfachen Sätzen eine beklemmende Atmosphäre zu schaffen.

Der Diogenes-Verlag lockt mit einem ansprechenden Cover. Zudem hat mich "Der Buchhändler ..." im Titel gereizt. Keine hohe Literatur, aber eine ansprechende Lektüre.





Freitag, 11. Dezember 2015


Das Herz ist auch in diesem Roman nur ein einsamer Jäger ...

"Spiegelbild im goldnen Auge" von Carson McCullers



"Unser Geist gleicht einem verschlungenen Gewebe, seine Färbung ist durch unsere Sinneserfahrungen geprägt ..."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Eine neu erbaute Garnison in den Südstaaten ruht in spröder Abgeschiedenheit und denkbar landschaftlich schön, doch das scheint niemand wirklich wahrzunehmen. Die zusammengewürfelte Gemeinschaft amerikanischer Soldaten und Offiziere denkt und fühlt nur bis zur Fortgrenze. Während die Soldaten, unter ihnen L.G. Williams, in den Kasernen wohnen, führen die Offiziere und Majore ein opulentes Leben in eigenen Häusern. Letztere treffen sich abends zum Kartenspielen, geben Partys und sollten die Glücklicheren vor Ort sein. Aber Langeweile und Neurosen haben Einzug gehalten. So auch bei Hauptmann Penderton, seiner Frau Leonora und den Nachbarn Major Langdon und Frau Alison. Vorherrschend die Gefühle von Einsamkeit, Schwermut und Verstörtheit. Ein Kaleidoskop skurriler Protagonisten, die -von Carson McCullers wunderbar erschaffen- den Leser in den Bann ziehen. Ganz still und behutsam nimmt eine Tragödie ihren Lauf, von der der Leser schon sehr bald weiß, dass sie nicht aufzuhalten ist. Ich war in gespannter Erwartung, habe aber trotzdem langsam und genussvoll gelesen, denn es wurden Szenen lebendig, in denen ich hätte verharren wollen. Atmosphärische Dichte, groteske Not, verlorene Menschen. Das alles hat mich eingefangen und nur schwer wieder los gelassen. 
Das Spiegelbild als Metapher dafür, sich selbst zu finden und zu erfahren! Grandios.

... das bewegte Herz

Die Protagonisten mit ihren Nöten. Und die schönen Szenen zu Pferd. Sie bewegen, weil die Reiter mit allen Sinnen dabei sind. 

... ein Zitat

"Im Leben eines Mannes gibt es Zeiten, in denen er jemanden braucht, den er lieben, auf den er seine nervösen Empfindungen richten kann. Und es gibt Zeiten, da sein Ärger, seine Enttäuschungen und Lebensängste in Hass münden müssen. Und es gab niemanden, den der unglückliche Hauptmann hassen konnte, und so befand er sich seit einigen Monaten in der kläglichsten Verfassung."

... die Sprache

Elegant, von zartem schönen Vokabular. Selbst Gewalt wird gefällig geschildert. 
Emotional intelligent.





Mittwoch, 9. Dezember 2015

"Der Stift und das Papier" von Hanns-Josef Ortheil


"Dafür belohnt mich das Schreiben mit großer Wachheit. Ich sehe das Leben nicht nur genauer, sondern ich sehe es überhaupt erst."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Wer vom Autoren den ersten Teil seiner Biographie "Die Erfindung des Lebens" gelesen hat und zu begeistern war, wird auch in dieses Buch gerne einsteigen. Mir ergeht es so, denn Hanns-Josef Ortheil hat Berührendes zu erzählen. 
Seine Mutter verstummt in Folge eines Schocks, als er etwa drei Jahre ist, was seine Stummheit nach sich zieht. Mit Hilfe des Vaters findet er seine Sprache wieder und an diesem Punkt setzt dieses Buch ein. 
In der Schule ist Hanns-Josef weit zurückgefallen und es droht die Sonderschule. Sein Vater, später auch die Mutter, erteilt ihm Unterricht, schenkt ihm ganz viel Zeit und Einfühlungsvermögen, um ihn in den Vorgang und die Kunst des Schreibens einzuführen. Der eigentliche Lehrer ist gar das Leben selbst: Hanns-Josef beobachtet alles um sich herum und ist hoch motiviert, alles festzuhalten. Sein Vater stellt ihm kleine Aufgaben, schenkt ihm Ideen zur Umsetzung und entfacht so seine Schreiblust. Zunächst gibt es jeden Tag Aufzeichnungen (Chronik genannt), es folgen Gedichte, Wetter- und Naturbeobachtungen, Dialoge, Vokabeln und kleine Geschichten. Hanns-Josef geht völlig im Schreiben auf, empfindet Glück und Zufriedenheit, liebt die tägliche "Schreibschule". 
In der Regelschule holt er tatsächlich auf und kann in der Jahrgangsstufe verbleiben.
Dieses Buch ist vielleicht keine literarische Sensation, aber die Geschichte einer Kindheit, die fasziniert. Begeistert haben mich die Eltern, die an ihren Sohn glauben, ihm ganz viel Liebe, Wissen und Erkenntnis schenken: im Schreiben steckt Magie! So erlebt es der Autor und hat darin seine Passion gefunden.
Heute ist Hanns-Josef Ortheil ein bekannter Schriftsteller und Universitätsdozent in Poetik und kreativem Schreiben. 
Erstaunlich!

... das bewegte Herz

Die Liebe der Eltern zu ihrem Sohn. Des Kindes Glück beim Schreiben.

... ein Zitat

" Als ich das zum zweiten Mal sage, bemerke ich erst, dass ich ein wenig wie Hemingway erzähle. Hemingway sitzt jetzt in meinem Kopf, wir schreiben zu zweit, und ich habe schon ein wenig von ihm gelernt. Ich warte darauf, dass Papa etwas sagt ... Papa räuspert sich wieder, und dann sagt er, dass er darauf vertraut habe, dass ich Hemingway als meinen neuen Lehrer begreife, denn er selbst könne mir nicht mehr viel beibringen. "Hemingway ist die beste Schule, die es gibt!", sagt Papa, und dann schweigt er ... "

...  die Sprache

Sie ist sehr ambitioniert und transportiert Wärme, wenn sie in Hanns-Josefs Seele blicken lässt. Zwischendurch gerät sie schon mal ein wenig in die Auflistung und verliert dann leider an Zauber.

"Dshamilja" von Tschingis Aitmatow


"Wenn er sang, sah ich ihn als kleinen Jungen vor mir, wie er einsam durch die Steppe wanderte."


Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Said ist Maler und sein liebstes Bild ist das zweier Menschen, die zwischen dichtem Pfriemengras auf einem Weg in die "lichte, freie Weite" gehen. Said erinnert sich ...
Mit fünfzehn Jahren lebt er in der kirgisischen Steppe bei seiner Familie. Dshamilja, die Frau seines Bruders, ist gleichzeitig seine beste Freundin. Das junge Mädchen sprüht vor Übermut und ist lebenslustig, verdreht den Männern den Kopf. Aber sie wartet auf Sadyk, ihren Mann, der vier Monate nach der Hochzeit in den Krieg ziehen musste. Bis Danijar ins Aul (Dorf) kommt, kriegsverletzt, verschlossen und schwermütig. Dshamilja fühlt sich zu dem rätselhaften Waisen hingezogen, vor allem als dieser seine Stimme offenbart. Danijar singt mit "Leidenschaft und Glut" und seine Lieder kommen "unmittelbar aus der Seele des Menschen". Said und Dshamilja lassen sich verzaubern und Dshamilja gesteht dem begnadeten Sänger ihre Liebe. In einer Augustnacht gehen sie weg, weg aus dem Aul, weg von Sadyk und auch weg von Said. Diese Szene verarbeitet Said in seinem Bild und tiefbewegt beschließt auch er das Aul zu verlassen. Er möchte eine Kunstschule besuchen und Maler werden.
"Und in jedem meiner Bilder wird Danijars Lied erklingen, wird Dshamiljas Herz schlagen."

... das bewegte Herz

Es ist die Poesie, die mich so bewegt hat. Die karge Steppe, die dank der Wortkunst zu einer traumhaften schönen Landschaft wird. Und mit den Augen der Liebenden betrachtet gewinnt alles an Farbe, Licht und Stimulus.

... ein Zitat

"Seine Stimme ergriff von mir Besitz, sie verfolgte mich auf Schritt und Tritt; sie klang mir in den Ohren, wenn ich morgens durch den taunassen Klee zu den weidenden Pferden lief, wenn die Sonne hinter den Bergen emporstieg und mir entgegenlachte. Ich hörte diese Stimme auch im leise rauschenden goldenen Regen des Weizens, den die alten Männer beim Worfeln mit ihren Schaufeln gegen den Wind warfen, und im gleitenden Flug des einsamen Geiers hoch über der Steppe ..."

... die Sprache

Zart und poetisch. Wunderschön!

Dienstag, 1. Dezember 2015

"Das Haus der zwanzigtausend Bücher" von Sasha Abramsky


"Die Sammlung war schlicht und einfach ein wunderbares intellektuelles Unterfangen."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Es ist Sasha Abramsky ein Anliegen, uns in das Haus seines Großvaters Chimen zu bitten. Genauso kommt es mir vor, wenn wir nach und nach durch alle Zimmer geführt werden und unsere Blicke über Bücherregale, Gemälde und das Mobiliar schweifen lassen dürfen.
Es ist vor allem eine Hommage an den Großvater, der über Jahre wertvolle Bücher, Erstausgaben, Manuskripte und Dokumente zusammengetragen hat, eine Sammelleidenschaft, die vor allem dem Beherbergen von bemerkenswerten Wissen und großen Ideen diente. Werke zur Geschichte und zur Philosophie, sozialistische Fachenzyklopädien, Revolutionsschriften und eine der wertvollsten Judaica-Sammlungen sind in dem Haus im Londoner Norden sortiert, gestapelt und hochgeschätzt.
Chimen war aber mitnichten ein Eigenbrötler, der sich hinter seinem "Archiv von Worten" versteckte, sondern er liebte es, Besucher im Haus zu haben, mir denen er moralische und politische Themen erörtern konnte. Die "Liebe zum Wissen" wurde mit Interessierten geteilt, wenn auch nicht jeder Gast in jeden Raum vorgelassen wurde.
Sasha Abramsky beginnt dieses Buch zu schreiben, als der Großvater 2010 stirbt und die kostbare Sammlung aufgelöst wird. Das Haus der "Buchjuwelen" zeigte schon Spuren von Baufälligkeit und konnte so nicht erhalten werden.
Der Autor schenkt seinem Großvater und seiner Leidenschaft einen zutiefst liebevollen Blick, wartet posthum mit noch ganz viel Hochachtung und Respekt auf.

... das bewegte Herz

Sasha, der als Kind ganz sicher war: alte Leute wohnen ausnahmslos in vollgestellten Bücherhäusern. So wie Chimen es gelebt hat, so bildete es für Sasha die Normalität ab.

Bewegt haben mich auch Chimens Worte im hohen Alter (fast neunzig): "Mein einziges Vergnügen besteht darin, ohne Unterlass zu lesen." Und das, während er schon körperlich verfällt und mit Schmerzen zu kämpfen hat.

... ein Zitat

"Im Laufe der Jahrzehnte war Chimen so süchtig nach Druckseiten geworden, nach der Haptik seiner Bücher, der Aura alter Manuskripte und den Inhalten seiner Briefwechsel, dass er sich zuletzt buchstäblich mit Wortmauern umgab. Sie boten ihm Schutz vor dem Wahnsinn der Außenwelt - oder halfen ihm, durch das Chaos zu navigieren. Am Ende seines Lebens war jeder einzelne Raum des Hauses, mit Ausnahme von Badezimmer und Küche, vom Boden bis zur Decke von Regalen mit doppelten Bücherreihen gesäumt ... und als in den Regalen kein Platz mehr war, verschwanden zuerst die Fußböden und dann die Tische unter hohen, schwankenden Bücherstapeln."

... die Sprache

Sasha Abramsky ist mit kultivierter Sprache groß geworden und arbeitet nach Studiengängen in Politik, Philosophie und den Wirtschaftswissenschaften im Bereich des Journalismus. Erfahrungen als Buchautor hat er bereits gesammelt. Dieses ist sein zweites Buch. Sehr gut ausformuliertes und intelligentes Werk.

Beeindruckt haben mich aber auch der Eifer und die Hingabe. Die Bewunderung für den Großvater und seine staunenswerte Sammlung ist auf jeder Seite spürbar.

Samstag, 28. November 2015

"Maschenka" von Vladimir Nabokov


"Das knospende Bild wuchs und saugte den ganzen sonnigen Zauber des Zimmers in sich auf ... "

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Im Jahr 1924 leben sechs russische Emigranten gemeinsam in einer Pension in Berlin. Lev Ganin, einer von ihnen, verdient sich sein Geld als Statist im Filmgeschäft. Er geht es etwas lustlos an und hadert darüberhinaus mit seiner Geliebten Ljudmila, von der er sich gerne trennen möchte. Ganins Zimmernachbar Alfjorow dagegen straht vor Glück, denn er erwartet die Ankunft seiner Frau Maschenka in Berlin. Auf Fotos erkennt Ganin in ihr seine Liebe aus Jugendtagen. Er gibt sich daraufhin Erinnerungen hin, denkt vor allem an ihre Treffen in einem Park im nördlichen Russland, sieht wieder den "lächelnden Glanz ihrer Augen" und fühlt, "wie heftig und wie strahlend man einmal geliebt hat."
Erfüllt von diesem zitternden Glück, plant er, Maschenka am Berliner Bahnhof zu treffen und sie ungeachtet ihres Ehemannes zurückzugewinnen.
Doch alles kommt anders, so als wäre Vergangenes vergangen und müsste es auch bleiben. 
Er fühlte also lediglich in Gedanken nochmal eine Liebe für vier Tage, mehr nicht ...
"Maschenka" ist das Débutwerk von Vladimir Nabokov und der große Meister entfaltet sich bereits hier in vollem Umfang. Ausdrucksstark auf eher wenigen Seiten. Das, was Nabokov ausmacht, lässt sich bereits in diesem Erstling erfahren. 
Tolles Buch! Unbedingte Leseempfehlung!

... das bewegte Herz

Ganins gegenwärtiges Unglück. Seine Ruhelosigkeit. Die zärtlichen Erinnerungen.

... ein Zitat

"Nur sein Schatten hauste noch in Frau Dorns Pension; er selbst hingegen war in Russland und durchlebte seine Erinnerungen, als ob sie Wirklichkeit wären ... Es war nicht einfach nur ein Wiedererinnern, sondern ein richtiges Leben, das viel wirklicher, viel intensiver war als das seines Schattens in Berlin: ein märchenhaftes Abenteuer, das sich mit ernster, zarter Behutsamkeit entspann."

... die Sprache

Unübertroffen, fast so, als würde er Sprache malen, wunderbar bildhaft. Hochpoetisch und zärtlich.
Die Beschreibung "stallmistfarbener Bart" war allerdings etwas gewöhnungsbedürftig ...


Freitag, 20. November 2015

"Die Manon Lescaut von Turdej" von Wsewolod Petrow



                  "Ich hatte eine Katastrophe erwartet und sie damit heraufbeschworen."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Ein Offizier ist zusammen mit Ärzten und Krankenschwestern in einem Lazarettzug auf dem Weg zur Kriegsfront. Die Reise führt diese skurrile Gesellschaft durch weite russische Wintergefilde. Der Icherzähler wirkt entspannt, liest meist Goethe oder wärmt sich am Ofen. Auf engem Raum zusammengepfercht beobachtet man die Reisegenossen und so verliebt er sich in Vera, eine etwas leichtlebige Krankenschwester mit "Ungestüm und Raffinesse" im Blick. Er nennt sie in seinen Tagträumen Manon Lescaut, sieht in ihr das französische Mädchen aus dem gleichnamigen Roman von Abbé Prévost, veröffentlicht 1731. Zunächst hält er es selber für möglich, dass Vera ihn nur "rein literarisch" interessiert, aber schlussendlich beginnen die beiden eine tragische Liebesbeziehung.
Im Anschluss an die Novelle finden sich im Buch Erläuterungen und eine Interpretation, die dem Leser die Augen für Zusammenhänge öffnen. Dadurch erst hat sich mir das Werk wirklich erschlossen und ich habe dessen Schöngeist erkannt. Es ist ein literarischer Kunstgriff, die "Heldin" eines großen Meisterwerks nochmal aufleben zu lassen. Petrow verneigt sich hier vor einem Klassiker und dessen Frauenfigur.

... das bewegte Herz

Mich bewegt die Faszination, die von der Figur der Manon Lescaut ausgeht. Viele Autoren greifen sie in ihren Werken auf. So auch Petrow, der offensichtlich entzückt ist von dieser betörend verführerischen Femme Fatale.
In der Literatur findet sie unter anderem Erwähnung bei Dumas, Wilde, Stendhal und Salter.
Aber auch in Verfilmungen und Vertonungen erliegen ihr viele männliche Protagonisten.
Eine Figur von klassischer Größe!

Hingegen berührt mich die Liebesgeschichte für sich in dieser Novelle eher nicht. Ich begegne zwei sehr interessant (da rätselhaft) gezeichneten Protagonisten, aber sie gestatten mir keine Nähe. Und ihr Liebesgeflüster ist eher banal und austauschbar.
"Ich habe nur dich allein geliebt und werde dich mein ganzes Leben lieben."

... ein Zitat

"Das Licht kam nur vom Ofen. Aus der Dunkelheit hörte man Schnarchen und Atmen. Ich setzte mich ans Feuer und saß still, ohne Gedanken, und fühlte, wie die Zeit stehengeblieben war- nichts bewegte sich, nichts änderte sich, und alles war nur von sich selbst erfüllt, wie in der Malerei: dort siehst du ebenfalls die bewegungslose Daseinsfülle jedes Dings, das gegen die Zeit und gegen Veränderungen gefeit ist."

... die Sprache

Sprachlich überzeugend. Weiche Poesie. Still und zart, gar im Angesicht des Todes.

Mittwoch, 18. November 2015

"Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte" von Lars Saabye Christensen



                                  "Es gibt nicht immer ein andernmal."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Im ersten Teil des Romans verbringt der fünfzehnjährige Chris mit seiner Mutter den Sommer auf einer Insel vor Oslo. Es sind die Tage der ersten Mondlandung im Jahre 1969 und Chris, der gerne schreibt, möchte daher auf seiner Remington dem Mond ein Gedicht widmen. Doch es bleibt bei der Überschrift, denn Chris fehlen Ruhe und Inspiration. Viele Gedanken liegen "in dicken Stapeln" in seinem Kopf, er sinnt über so vieles nach, vor allem über sich selber und seine Freunde, aber auch die Mutter lässt ihn grübeln. Liebevoll beobachtet er sie und hat den Eindruck, sie sehne sich nach etwas nicht Greifbarem. Am Tag der Mondlandung kommt es zu einem dramatischen Zwischenfall auf der Insel und Chris kehrt in die Stadt zurück, um wieder zur Schule zu gehen.
An dieser Stelle haben wir es in dem Buch mit einem Bruch zu tun Ungerne verlasse ich Chris und muss mich auf Frank einstellen, Mitte dreißig und in Karmack, einer amerikanischen Kleinstadt, als Übermittler tätig. Kommt es zu Unfällen und Gewaltdelikten, ist es Franks Aufgabe, die Angehörigen aufzusuchen und ihnen die schlechte Nachricht zu überbringen. Frank und Chris sind sich in ihrer Grübelei ähnlich und sie lassen den Leser ob ihrer merkwürdigen Gedankengänge oft schmunzeln. Ernste Szenen kippen ins Urkomisch- Drollige und selbst zu Gewalt und Tod gesellt sich ein humoriger Aspekt. In diesem Buchteil ist es mir fast zu überzogen. Doch der Leser muss sich gedulden, denn es folgt ein Epilog, der das komplette Buch in einen neuen Zusammenhang stellt. Das ist vom Autoren genial konzipiert. Wir begegnen wieder Chris, der nun schon an die sechzig Jahre endlich Wohlgefühl und Erfolg im Schreiben gefunden hat. "Das Geräusch der Tasten erfüllte mich mit Dankbarkeit."
Die Figuren erscheinen in einem anderen Licht, alles setzt sich neu zusammen und der Leser steht fasziniert vor dieser Buchschöpfung.

... das bewegte Herz

Chris und Frank bewegen, wenn sie ihre Fragen ans Leben richten, alles bedeutungsvoll erforschen, seien es Freundschaft, das Erwachsenwerden, das Normal- oder Anderssein, das Scheitern oder die Trauer. Sie sind  tiefsinnig und erfrischend zugleich, rühren an. Und die ideenreichen Metaphern schaffen tolle Bilder.
"Jetzt würde das Leben auf den Kopf gestellt, und das war, als hätte man einen Stein umgedreht, du ahnst nie, was darunter zum Vorschein kommt."

... ein Zitat

" Mutter drückte ihre Zigarette vorsichtig im Aschenbecher aus, ein bisschen Glut flog auf, und der Rauch glitt langsam fort, während ihr Gesicht näher rückte. Ob ich jetzt, zur schreibenden Stunde, wie es heißt, meine Mutter so sehe und versuche, in ihren Gesichtszügen zu lesen, oder es damals, am Abend der Mittsommernacht 1969 so war, das weiß ich nicht ... Aber die Menschen, die uns am nächsten stehen, ziehen sich zurück, wenn die Zeit zwischen sie und uns tritt, und die Erinnerung, dieser zerbrechliche und unbestimmbare Wasserspiegel, ist alles, an das wir uns lehnen und auf das wir vertrauen können."

... die Sprache

Gleichsam einfach und reich. Poetisch in den Versuchen, das Leben zu erklären.

Mittwoch, 11. November 2015

"Ein Tag des Glücks" von Isaac B. Singer


                                        "Liebe ist eine Art Wahnsinn."

Es bleiben in Erinnerung ...

... die Geschichten

In der Mehrzahl der Geschichten tritt Issac B. Singer als Icherzähler auf. In seiner Funktion als Ratgeber, Feuilletonist oder Redakteur einer jiddischen Zeitung sprechen die Menschen ihn an und schütten ihm ihre Herzen aus. Singer sieht sich in der Rolle des Zuhörers, fragt nach und stößt an, aber bewertet nicht. Der Leser erfährt von wundersamen Begebenheiten, in denen die Liebe als Wegweiser, große Chance oder Überraschung zu Tage tritt.
"Unsere Gefühle regieren uns. Sie fallen uns an wie Räuber und spotten all unseren Entschlüssen."
Die Geschichten spielen im jüdischen Leben und Glauben und entführen in eine Welt, die dem deutschen Leser fremd ist. Wir erfahren von Zeremonien, die bizarr anmuten, wie rituelle Waschungen, Sabattessen, Kaddisch und das Laubhüttenfest. Sie schenken den Geschichten einen großen Reiz, wie es das Fremdartige stets tut. Im Glossar des Buches sind alle Riten aufgelistet und erklärt, können also nachgelesen werden.

... das bewegte Herz

Bewegt hat mich, wie die Liebe als Teil eines großen alles umspannenden Gefüges betrachtet wird. Der Liebende wird oft gelenkt, das für ihn Beste geschieht auf seltsamen Wegen, erklärbar nur durch etwas Übernatürliches und Schicksalhaftes. Dabei kommt die Tragik nicht zu kurz. Manchmal ist es vorgesehen, dass der Mensch leiden muss.

... ein Zitat
(es gefällt mir, weil Bücher eine Rolle spielen)

"Mein Mann sprach dauernd nur vom Sparen. Um ehrlich leben zu können, muss man immer etwas für schlechte Zeiten zurücklegen. Wir sparten, was wir konnten. Nur was Bücher anging, war ich verschwenderisch. Kam ein Buchhändler in die Stadt, so kaufte ich alle jiddischen Bücher: Geschichtenbücher, einen Roman von Issak Meir Dick, Mendele Mocher Sforim, Scholem Alejchem, Perez und Scholem Asch. In unserem Dorf gab es eine kleine jiddische Bibliothek, und heimlich holte ich mir dort Bücher."

... die Sprache

Die Sprache ist die eines Nobelpreisträgers für Literatur (verliehen 1978) Auch wenn die Geschichten einfach gehalten sind, spürt man das Vermögen des Autors. 
Eine Hymne auf die jiddische Sprache. 

Dienstag, 3. November 2015

Ich verneige mich vor diesem Buch ...

"Der Schlachtenmaler" von Arturo Pérez-Reverte



"In Kriegen zeigt sich das deutlicher. Schließlich sind sie nichts anderes als das zu dramatischen Extremen gesteigerte Leben ..."


Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Nach dreißig Jahren Kriegsfotografie zieht Andrés Faulques sich an der spanischen Küste in einen alten Wachturm zurück und beginnt dort, ein riesiges Wandgemälde im Rund des Turmes zu entwerfen. In ihm versammelt er all die Kriegsszenen, denen er mit Blick durch seine Kamera auf der Spur gewesen war. Hinter dem Sucher war er Techniker und auch zu dem Gemälde hält er zunächst Distanz, betrachtet es als Möglichkeit, das Chaos seines Lebens zu sortieren. Wie groß sein Bedürfnis danach wirklich ist, stellt er in vielen tiefgründigen Gesprächen mit einem totgeglaubten Soldaten fest, der ihn im Turm aufsucht. Der Leser erfährt von einer tragischen Verbindung dieser beiden Männer im Kriegsgeschehen von Kroatien. Noch ein weiteres Rätsel löst sich nur nach und nach und zwar die Liebesbeziehung des Fotografen und Malers zu Olvido, einer siebenundzwanzigjährigen Italienerin. Der Leser weiß recht früh von ihrem Tod, die Umstände werden aber erst am Ende des Romans aufgeklärt.

... das bewegte Herz

In diesem Buch gibt es nichts, was mich nicht bewegt hätte. Die Szenen, in denen Faulques sich als Fotograf in weltweite Kriegsgebiete begibt und grausame Fotos macht, die sehr detailgetreu beschrieben werden. Die Liebe zu Olvido und an diesem Punkt ihre zarte Schönheit, die in so großem Kontrast zu den blutigen Kriegsschauplätzen steht. 
Faulques, wenn er an seinem Wandgemälde arbeitet oder im Gespräch mit dem Kroaten ist. Dieses Turmzimmer, das zum Ort der Wahrheit wird und die knisternde Anspannung, da der Kroate die Absicht hat, ihn umzubringen. Und die Ruhe, die am Ende einkehrt: "Die Dinge kamen, wann es sein musste. Zu ihrer Zeit und in ihrem eigenen Tempo".

... ein Zitat

"Der Mann, der dieses gewaltige Rundbild malte, diese Schlacht aller Schlachten, hatte einer solchen Struktur in vielen Stunden seines Lebens wie ein geduldiger Heckenschütze nachgespürt, auf einer Beiruter Terrasse genauso wie am Ufer eines afrikanischen Flusses oder an einer Ecke von Mostar, um auf das Wunder zu warten, das er auf einmal hinter der Objektivlinse, im dunklen- streng platonischen- Kasten seiner Kamera und seiner Netzhaut festbannen würde, das Geheimnis dieser äußerst komplizierten Verkettung, das das Leben so wiedergäbe, wie es wirklich war ..."

... die Sprache

Mein Herz ist auch deswegen so bewegt, weil Arturo Pérez-Reverte alles mit seiner unvergleichlich schönen Sprache in Szene setzt. Ob in der Gewalt oder in der Liebe: immer stilsicher. Und er versteht es auch, dem Leser eine Landschaft vorzuführen oder die Pinselstriche des Malers. Wortreiche intelligente Sprache mit viel Einfühlungsvermögen. Dialoge, während derer man den Protagonisten an den Lippen hängt.  

Samstag, 31. Oktober 2015

"Eine Hand voller Sterne" von Rafik Schami



                "Geschichten sind Zauberquellen, die nie versiegen."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Dieses Buch hat autobiographische Züge, denn Rafik Schami erinnert sich selber an seine Jugendjahre und die schriftstellerischen Anfänge. In dem Roman erzählt er als Junge in Damaskus von seiner Familie, von Freunden, seiner ersten Liebe und vor allem von seinem Traum, Journalist zu werden. In der Schule lernt er fleißig und interessiert und hat Freude an Gedichten. Zwei von ihm verfasste werden gar in einem Buch veröffentlicht. Trotzdem nimmt der Vater ihn aus der Schule und lässt ihn in der familieneigenen Bäckerei arbeiten. 
"Die Armut erstickt unsere Träume, noch bevor sie zu Ende geträumt sind."

In Damaskus sind Verhaftungen an der Tagesordnung, die Regierung verfolgt Regimeuntreue rigoros. Journalisten leben gefährlich, sobald sie eine eigene Meinung kundtun wollen. Der Bäckerssohn verfolgt sein Ziel jedoch weiterhin und beginnt zusammen mit seinem Freund Habib eine Untergrundzeitung herauszugeben. Als Habib verhaftet und gar gefoltert wird, lässt sich der Junge nicht beirren und publiziert weiter. Sein wacher mutiger Geist schenkt dieser Lektüre eine beeindruckende Lebendigkeit. Immer bleibt die Hoffnung, da Aufgeben keine Alternative ist.

... das bewegte Herz

Die Freundschaften, die der Junge pflegt. Besonders bewegt haben mich die Geschichtenerzähler unter ihnen und ihre Weisheiten.
"Der Tod, mein Junge, sagt uns jede Stunde: Lebe! Lebe !Lebe!"

... ein Zitat

"Ich rede nicht mehr mit ihm. Ich bin wie gelähmt. Irgendwann hat er noch versucht mir zu erklären, in was für einer schwierigen Lage er sei und dass er auch gerne in die Schule gegangen wäre ... Als er fertig war mit seiner Litanei, fragte ich ihn, warum wir wohl nur Bäcker sein sollen. Er schaute mich überrascht an und sagte, das sei unser Schicksal. Meines nicht!!! Ich will nicht!!! Ich will weiter zur Schule gehen und Journalist werden!!!"

... die Sprache

Eine leise Sprache. In kurzen Sätzen. So wie Tagebucheintragungen eines heranwachsenden Jungen lauten könnten. 
Die Sprache fängt sehr schön die Atmosphäre in Damaskus ein. Ich habe Innenhöfe, Lehmhütten und offene Türen gesehen und konnte den Käse, die Rosinen und Mandeln riechen ...






"Die Mutter meiner Mutter" von Sabine Rennefanz



                                "Ich kenne sie nicht so weich und offen."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Ein Flüchtlingsmädchen kommt nach dem Krieg als Umsiedlerin in einen Ort an der Grenze zwischen Schlesien und der Kurmark Brandenburg. Es heiratet einen über zwanzig Jahre älteren Mann und bekommt Kinder. Jahrzehnte später offenbart sich der Tochter, was damals vor der Hochzeit geschehen ist und schließlich ist es die Enkelin, die in ihrem Roman dieser Geschichte nachspürt und sie verarbeitet. Bilder von Liebe und Familienidylle fallen zusammen und müssen wie ein Puzzle neu geordnet werden.
Die Icherzählerin fühlte sich ihrem Großvater stets sehr verbunden, liebte ihn so zufrieden und ihr zugewendet er war, während sich zur Großmutter Anna keine Nähe einstellen wollte. "Wenn ich versuchte, meine Großmutter zu umarmen, duckte sie sich weg."
In dem biografischen Roman von Sabine Rennefanz wird im Nachhinein das Leben von Anna aufgeblättert. In verschiedenen Erzählzeiten und Perspektiven kommt die Autorin hinter eine Familientragödie, die mit der Bürde der Vertreibung nach dem zweiten Weltkrieg beginnt und bis in die Generation der Enkelin nachwirkt.

... das bewegte Herz

"Sie deckte den Täter, um die Töchter zu schützen."
Das Zusammenrücken der Familie nach der Offenbarung der Großmutter. Wunderbar, wie gelöst Anna danach wirkt, körperliche und emotionale Nähe zulässt.

... ein Zitat

"In unserer Familie gibt es wie in den meisten Familien eine feste Erzählung, ein Skript, in dem allen Rollen zugeschrieben werden, an die sie sich zu halten haben. Mein Großvater ist darin der Held, der barmherzige Patriarch, der um die Familie kämpft. Er ist der treusorgende Familienvater, der hilfsbereite Nachbar, der vorbildliche Ehemann ...
Meine Großmutter spielte die Rolle der harten, missmutigen Frau ...
In Wahrheit hat diese Rollenverteilung noch nie gestimmt und die Erzählung unserer Familie war eine Lüge. Wie das Land, in dem wir lebten, eine Lüge war. Vielleicht musste die große Lüge erst zusammenbrechen, bevor die kleinen zum Vorschein kamen."

... die Sprache

Sprachlich nicht ganz ausgefeilt. Aber die eher einfache Sprache versucht vielleicht die Beklemmung zu händeln, setzt ihr in kurzen prägnanten Sätzen Schranken und vermeidet so das allzu biographisch Sentimentale.

Ich möchte das Lesen dieses Buches empfehlen, empfinde es allerdings am Ende als nicht ganz rund. Schlusssätze sind gewichtig und das möchte ich auch spüren. Hier scheinen sie mir sehr beliebig und austauschbar.

Dienstag, 13. Oktober 2015

"Über den Winter" von Rolf Lappert



               "Die Wintersonne war blass, eine geschälte Orange."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Lennard Salm, ein Performancekünstler in den Endvierzigern, lässt im fernen Süden sein gegenwärtiges Projekt liegen und kehrt heim nach Hamburg, um zur Beerdigung seiner Schwester Helene vor Ort zu sein. Nach vielen Jahren kommt die Familie anlässlich dieses traurigen Ereignisses wieder zusammen. Der Winter spiegelt die Grundstimmung des Romans und seines Protagonisten wieder: frostig und der Himmel meist "schmutzigblau".
In der ganzen Familie herrscht vordergründig eine eher kühle Atmosphäre. Es ist allein Lennards Schwester Bille, die sich über die Jahre ein unbekümmertes Gemüt bewahrt hat. Vielleicht aber sind es auch nur die Joints, mit Hilfe derer sie sich "an ein heiles Familienleben" erinnert und zur "Meisterin im Aufhellen, im Schönreden, im Verdrängen" wird. 
Nach und nach erfährt der Leser mehr von der zerrütteten Familie, für Lennard ein "Elend des Erinnerns". Er verließ damals Hamburg, ging nach New York und gab sich ganz der Kunst hin.

Nun zurück in Hamburg besinnt er sich auf seinen alten Vater, zieht wieder in das Kinderzimmer von damals und möchte bleiben. Aber man könnte sagen, es ist zu spät. Die "große weiße Karte seines zukünftigen Lebens" wartet vergeblich auf Farbe. 

"Über den Winter" ist ein großartiger Roman über die Verdrängung unerfüllter Wünsche, das Aufgeben von Träumen und das Hinterlassen von Spuren. 
Das Trübe und Wolkenverhangene, das in diesem Roman vorherrscht, ist manchmal schwer zu ertragen, aber Rolf Lappert setzt außergewöhnliche Stimmungen in Szene, schafft Orte und Figuren, die ich als Leserin nur ungerne wieder verlasse. Besonders packend für mich: Lennards Vater und sein Wohnraum auf dem Dachboden.


... das bewegte Herz

Lennard, der "seine Mutter verachtet und sich zugleich nach ihr gesehnt hat". Der "Dämmergrund der Kindheit", der ihm zu schaffen macht.

... ein Zitat

"Er meinte das Gewicht des Gebäudes auf sich zu spüren, das Gewicht all der vergeblichen Worte, die darin gefallen waren, die Last der enttäuschten Hoffnungen, das schwerwiegende Glück, das am Ende des Tages so leicht war, dass es verflog. Er fühlte die Anwesenheit seines Vaters, der über ihm am Küchentisch saß und mit einem Bleistift sorgfältig Buchstaben in kleine Quadrate schrieb und gegen das Vergessen ankämpfte, indem er sich an Surinam erinnerte, obwohl er nie dort gewesen war, und an Maniok, das er nie gegessen hatte. "

... die Sprache

Den Leser berührend, gründlich, bildhaft, ausdrucksstark trotz leiser Töne. 


Donnerstag, 8. Oktober 2015

"Die Geschichte von Blue" von Solomonica de Winter


        Ein bemerkenswertes Debüt der Tochter von 
Leon de Winter und Jessica Durlacher.


Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Blue, ein dreizehnjähriges Mädchen, schreibt einen Brief an einen gewissen Dr. Jeremy Stewart. Sie möchte ihm darin darlegen, warum aus ihrer Hand ein Doppelmord geschehen ist.
Man erfährt zunächst vom Verlust ihres Vaters. Als dieser bei einem Bankraub ums Leben kommt, ist Blue vom "Dämon der Verzweiflung" gepackt. Ihre drogenabhängige Mutter vermag ihr nicht die gleiche Wärme zu geben, Blue ist vielmehr oft sich selber überlassen und ohne Halt. Erschwerend kommt hinzu, dass Blue seit dem Tod ihres Vaters nicht mehr spricht.
Ihr Vater schenkte ihr einst ein Buch, den "Zauberer von Oz". Blue trägt dieses Buch stets mit sich rum und identifiziert sich mit mit den Figuren darin. Freundinnen hat sie keine, denn mit dem merkwürdigen Mädchen möchte keiner was zu tun haben.
Als sie sich verliebt, gar wieder zu reden beginnt, aber dann bitter enttäuscht wird, eskalieren Hass und Wut in ihr und sie begeht den Doppelmord.
Geschickt lässt die Autorin sie in ihrer Erklärung nicht nur den Psychologen, sondern auch den Leser ansprechen. Unweigerlich versetzt man sich in sie hinein, doch haben mich ihre bitteren Rachegelüste ein wenig befremdet.
Der Aufbau des Buches ist genial gestrickt. Solomonica überzeugt mit einem Konstrukt, das mich, vor allem hinsichtlich ihres Alters, begeistert hat.
Solomonica tritt mit diesem beeindruckenden Debüt in die Fußstapfen ihrer Eltern. Sie sind die bekannten und erfolgreichen Schriftsteller Leon de Winter und Jessica Durlacher.

... das bewegte Herz

Ihre Entwurzelung, ihre Sehnsucht nach dem Vater, die Mutter, die ihr keinen Halt gibt. Dass wir so tief in ihre blaue Seele blicken dürfen. Vor allem die letzten Seiten berühren sehr.

... ein Zitat

"Mein Name ist Blue. Nicht blau wie ein Rock oder ein Türkis, nicht blau wie Blaubeeren und nicht blau wie Nagellack. Sondern blau wie salzige Tränen, blau wie eine winzige Blaumeise. Blau wie der Wind, das Meer, der Regenbogen. Das Dunkelblau in den aufziehenden grauen Wolken vor einem Gewitter. Das ist das Blau, nach dem ich benannt bin. Das ist mein Blau."

... die Sprache

Es ist tatsächlich die Sprache eines Teenagers. Ruppig und rau im Aufstand, aber auch ganz zart auf der Suche nach Liebe. Gefallen haben mir die vielen Bilder, die Ausdruckskraft und die Poesie, die ihr gelingt.

Sonntag, 4. Oktober 2015

"Menschen am Berg" von Melanie Mühl


                                                      "Die Natur lehrt uns Demut."

Es bleibt in Erinnerung ...

... das Erzählte

Die Journalistin Melanie Mühl nimmt uns in acht Reportagen mit in die Berge und stellt die Menschen, die dort wohnen und arbeiten, in den Mittelpunkt. Die Vielfalt ist ihr gut gelungen, erleben wir ein Spektrum von Existenzen, die wirklich ganz nahe am Berg sind. Familien, die in den Bergen des Jura eine Alp oder im Kanton Uri einen Hof bewirtschaften, ein Glaziologe, der im Wallis Gletscher und Murgänge beobachtet, Geologen und Tunnelbauer, die im Gotthardmassiv einen Eisenbahntunnel vorantreiben, ein Bergführer im Engadin, der auch in der Bergrettung tätig ist und nicht zuletzt eine Bärenfamilie, deren Wiederansiedlung im Trentino versucht wird. Wir lesen von Familienzusammenhalt und Glaube, aber auch von Klimawandel, geologischem Profil, dilettantischer Seilschaft und dem gewünschten Nebeneinander von Mensch und Tier, das nur schwer umzusetzen ist.

... das bewegte Herz

Der Zusammenhalt der Menschen, das Bescheidene, der Wunsch, an keinem anderen Ort zu sein.
Das Glück trotz vieler Widrigkeiten, die Faszination für das Dämonische und die Schönheit der Natur. Besonders gut gefallen hat mir das Bild von Orten, die sich "zauberbergromantisch in die Gegend schmiegen."

... ein Zitat

"Wer die Menschen auf Golzern verstehen möchte, der muss die Landschaft verstehen, die sie geprägt hat. Es ist eine Landschaft, die keinen Zweifel an der der Übermacht der Natur lässt ... Die Natur ist besonders tückisch hier, sie hält keinen Fluchtweg bereit, nur das Ausgeliefertsein ... Im Herrgott haben sie einen Verbündeten gegen die feindliche Natur gefunden. Er ist die beste Deutung für das, was ihnen auf dem Berg widerfährt. Ohne Gott wäre alles nur Willkür, und die würde ihr Leben unmöglich machen."

... die Sprache

Die Sprache pendelt zwischen Reportage und Geschichte. Da die Autorin für den Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schreibt, gelingt ihr dieser Spagat sehr gut. Ihre Sprache ist informativ und professionell und doch ganz nahe dem "Menschen am Berg".

Samstag, 3. Oktober 2015

"Der Hochstapler" von David Belbin


           "Ein Abschluss in Literatur ist der Tod für einen Schriftsteller."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Mark Trace, achtzehn Jahre alt und langhaarig, träumt davon Schriftsteller zu werden. Als er für ein Jahr nach Paris geht, hofft er dort auf Inspiration, denn auch Joyce und Hemingway lebten in jungen Jahren in dieser Stadt an der Seine. Seit seiner Schulzeit ist Mark empathischer Leser. In Paris vertieft er sich besonders in die Werke von Hemingway und versucht dessen Stil für eigene Werke zu übernehmen. Da er im Kopieren von Schreibstilen ein ausgesprochenes Talent beweist, werden seine Texte wirklich Hemingway zugeschrieben, als sie zufällig in den Umlauf geraten. Mark flüchtet aus den Verwicklungen nach London und verdingt sich dort als Redaktionsassistent in einem kleinen Literaturbetrieb, der regelmäßig eine Zeitschrift herausbringt. Und wieder schreibt Mark hingebungsvoll an Texten von berühmten Autoren, dieses Mal, um die Auflage der Zeitschrift zu steigern und ihr Überleben zu sichern. 
Ein Literaturstudium bricht er ab, als er mangels Enthusiasmus und Eifer durch eine wichtige Prüfung fällt.
Es gelingt David Belbin, mit Mark einen sympathischen, naiven Protagonisten zu schaffen, der immer wieder zu scheitern droht. Aber seine Leidenschaft für das geschriebene Wort schenkt ihm Antrieb und lässt ihn weitermachen.
Nicht nur Mark hat Freude an der Literatur. Auch der Leser spürt, dass dies ein Roman über große Schriftsteller und deren Werke ist, seien genannt Dickens, Greene, Hemingway, Joyce und Dahl. Wer Bücher liebt, liebt auch den Hochstapler ...

... das bewegte Herz

Das Herz schlägt für den liebenswürdigen Protagonisten und für die Literatur allgemein. Ein Roman für Bibliophile.

... ein Zitat

"Es begann, als ich vierzehn war und wir im Englischunterricht David Copperfield lasen. Die Klasse beschwerte sich, das Buch sei viel zu lang. Ich stimmt mit ein, aber insgeheim hatte ich Spaß daran; vor allem gefiel mir, wenn Mr. Moss uns vom viktorianischen London erzählte, einer Stadt, so tatkräftig und einfallsreich wie, nun ja, verkommen. Schon damals stand für mich fest, dass ich eines Tages in London leben würde.
Als wir beim Endes des zwölften Kapitels angelangt waren, gab Mr. Moss uns eine Aufgabe.
"Ich möchte", sagte er, "dass ihr so tut, als wärt ihr Dickens. Schreibt den Anfang des nachfolgenden Kapitels ... Ihr habt freie Hand, was die Handlung betrifft, aber ihr sollt versuchen, Dickens' Ton zu treffen."

... die Sprache

Sie ist einfach, aber nicht simple.
"Untertauchen" von Lydia Tschukowskaja


  "Alle Worte sind auf dieser Erde gewachsen und strecken sich zum Himmel wie diese Birken."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Lydia Tschukowskaja hat für ihren Roman die Kulisse einer Winterlandschaft gewählt, lässt die Protagonistin lange Spaziergänge durch einen verschneiten Wald machen und in das "Schweigen des Schnees" eintauchen.
Nina Sergejewna wohnt in einer Art Sanatorium für Schriftsteller und soll dort zur Ruhe kommen. Zu verarbeiten hat sie die Verhaftung und Ermordung ihres Mannes Aljoscha im Jahre 1937, als Stalins Terror ungemein wütete. Immer wieder tauchen Bilder von der Schreckensnacht in ihr auf, als Aljoscha zwischen zwei Soldaten das Haus verlässt. Nina lässt die Erinnerung zu, möchte nicht vergessen, sondern immer wieder realisieren, was geschehen ist, sich damit auseinandersetzen. Am liebsten möchte sie ein Buch darüber schreiben, aber ...
"Meinen Erinnerungen wird es versagt bleiben, sich in ein Buch zu verwandeln."
In ihrem Zimmer liest sie Gedichte, erinnert sich an die Poesie russischer Schriftsteller und arbeitet an Übersetzungen.
Mit "Untertauchen" ist ein Abtauchen in eigene Bewusstseinsgründe gemeint, das Aufspüren von Klarheit und Wahrheit.


... das bewegte Herz

Als sie in Bilbin einen Seelenverwandten vermutet, doch enttäuscht wird. Denn dieser Autor, ebenfalls Mitbewohner im Sanatorium, weicht in seinen Werken der Wahrheit aus und verrät damit seine Erinnerungen.

Die Liebe zur Poesie und die Erinnerung an Boris Pasternak haben mich immens bewegt.
Boris Pasternak teilte das Schicksal mit Lydia Tschukowskaja, wegen Landesverrats aus dem  Schriftstellerverband der UDSSR ausgeschlossen worden zu sein.

... ein Zitat

"Ich erhob mich und ging, um mich anzuziehen. Es war Zeit für einen Spaiergang  vor dem Untertauchen. Das tägliche Übersetzungssoll hatte ich bereits am Morgen hinter mich gebracht und mir vorgenommen, nach dem Tee, wenn alle vor dem neuen Film sitzen werden, zu tauchen. Sollte es mir gelingen, den Himmel, den Schnee und die Luft mit nach Hause zu bringen, bis zum Schreibtisch, dann könnte das Untertauchen gelingen, und die beseligende Klarheit des Blicks würde sich sofort einstellen."

... die Sprache

Sehr poetisch. Wunderbar in der Darstellung von Landschaft, Lyrik und Gefühlswelt.
"Das letzte Land" von Svenja Leiber


                        "Unserem Land leuchtet schon längst nichts mehr."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Ruven Preuk wächst in einer Stellmacherfamilie auf. Er entwickelt sich sonderbar, mag auf dem Hof nicht mit anpacken, sondern begibt sich lieber in die Natur und "zählt den Takt, den das Licht und die Pappeln ihm schlagen". Er ist hochmusikalisch und damit seinem bodenständigen Vater eher fremd. Dieser versucht ihm gar, die Musik aus dem Leib zu prügeln. Bis er nachgibt und dem Jungen erlaubt, eine Geige zu besitzen und Unterricht zu nehmen. Das, was nun als großes Glück beginnt, zerrinnt in den Tiefen des Krieges.
Svenja Leiber spannt diesen Roman über sechs Jahrzehnte auf. Am Ende hat Ruven nicht das erreicht, was das Leben ihm vielleicht versprochen hat. Die Frau seines Herzens wird nicht seine und andere Frauen scheiden wieder aus seinem Leben. Auch kommt ihm die Musik abhanden.
Später geigt er nur, "um nicht ganz zu verschwinden" und "ohne inneren Klang".
Es ist die Unbarmherzigkeit des Lebens und des Krieges, die ihn beugt, seine vergebliche Anstrengung, in der Liebe und der Leidenschaft zuhause zu sein. Der Ton des Buches ist sehr melancholisch, aber ich muss es doch empfehlen, denn es rührt und packt den Leser. Am Ende lacht kein Happy End, aber in seiner Tochter Marie wohnt etwas Glück, nicht hell und funkelnd, aber es verspricht Dauer. 

... das bewegte Herz

Es liegt in der Person des Ruvens, in der Abwärtsspirale seiner Leidenschaft für die Musikalität des Lebens. Seine Begabung verklingt, verstummt im Schmerz.
Und die Sprache bewegt, rührt mit ihrer Wucht und der Stärke ihrer Bilder.

... ein Zitat

"Ist ihm langsam ganz fern, dieser Junge. Kommt weder nach ihm noch nach der Mutter, und kam doch aber mal nach ihnen beiden. Er hatte die Formen von ihm und die Farben von ihr. Jetzt sieht es so aus, als habe er vor, einer zu werden, den man nicht kennt ... "Die Bienen, die erkennen sich am Geruch", sagt Nils. "Wenn eine heimkommt, die anders riecht, jagt man sie fort."

... die Sprache

Sie ist rau und drastisch, aber sie vermag Bilder zu malen, die großartig sind. Manchmal knapp und kurz, dann aber wieder getragen von einer Poesie und Metapherintensität, die mich als Leserin sehr für das Buch geöffnet hat.


Mittwoch, 16. September 2015

"Hemingways Stuhl" von Michael Palin



                                  "Man kann vernichtet werden, aber 
                                          man darf nicht aufgeben."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Martin Sproale wohnt mit seinen sechsunddreißig Jahren noch bei seiner Mutter und ist als emsiger Postbeamter in einem kleinen Office in Theston, einem beschaulichen Ort an der ostenglischen Küste, beschäftigt. Er liebt Ernest Hemingway, bezeichnet sich gar selber als "Aficionado". Martin hat alle seine Werke gelesen, sie ruhen in seinen Regalen, und er sammelt darüber hinaus Erinnerungsstücke aus Hem's Leben.
Eigentlich liebt er auch Elaine, eine Kollegin aus dem Postamt, und Ruth, eine amerikanische Schriftstellerin, die über Hemingway schreibt. Frauen bereiten ihm aber gewöhnlich Kopfzerbrechen. Ruth vermittelt ihm den titelgebenden Angelstuhl, auf dem Hemingway gesessen haben soll, als "Der alte Mann und das Meer" verfilmt wurde.

Die eigentliche Tragik in Martins Leben beginnt, als das kleine Postamt modernisiert werden soll, Martin sich eher ungeschickt dagegen auflehnt und seine Arbeit verliert. Den Angelstuhl kann er sich dann eigentlich nicht mehr leisten und er gerät in Schwierigkeiten.
Am Ende spitzt sich alles rasant zu, aber Martin ist auf seine etwas tollpatschige Weise durchweg schlüssig. Ein bisschen schräg. Immer überzeugend Hemingway-like. Sympathisch.

... das bewegte Herz

Der etwas verschrobene Martin und seine Liebe zu Hemingway. Die von ihm geführten Zwiegespräche mit dem amerikanischen Schriftsteller.
" Das fabelhafte ist, dass wir beide dasselbe sind, Papa. Versager."

... ein Zitat

"Martin gab es Ruth gegenüber nicht zu, weil er wusste, dass sie es lächerlich fand, aber die Idee, den Angelstuhl zu kaufen, ergriff von Tag zu Tag stärker von ihm Besitz. Seit sie ihm zum ersten Mal das Photo gezeigt hatte, rief er sie jeden zweiten Abend an, um sich zu vergewissern, dass es ihn gab, dass sie wusste, wo er sich befand, und dass er an keinen anderen verkauft würde. Seine Tage füllten sich mit Gedankenspielen, wie der Sitz auf hoher See knarrte, sich hin und her bog, während Hemingway, angeschnallt wie auf dem elektrischen Stuhl, damit kämpfte, einen riesigen Marlin, Hai, Thun- oder Schwertfisch aus den ruhigen Wassern des Stillen Ozeans emporzuhieven."

... die Sprache

Michael Palin hat hauptsächlich Reisedokumentationen verfasst. Damit war er sehr erfolgreich. Auch in diesem Roman spürt man, dass er schreiben kann. Ich fühlte mich sprachlich angesprochen, keine hohe Literatur, aber geistreiche Unterhaltung.
"Die Wanderjahre des August Zollinger" von Pablo d'Ors


"Den besten Entdeckungen gehen die größten Misserfolge und die tiefsten Gefühle des Scheiterns voraus."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

August Zollinger wächst in seinem Heimatdorf Romanshorn auf und möchte endlich, mit siebenundzwanzig Jahren, eine Buchdruckerei eröffnen. Da es aber im Ort bereits eine gibt, wissen das die dort ansässigen Buchdrucker zu verhindern. August wird sogar bedroht und verlässt Romanshorn.
Eine Odyssee beginnt, die ihn verschiedene Berufe ausführen lässt. In einem verlassenen Dorf wird er Bahnwärter und verliebt sich in die Stimme einer Frau, die ihm einmal täglich den durchfahrenden Zug ansagt.
Er tritt in die Armee ein und übt sich im Marschieren, Singen und in der Trinkfestigkeit.
Seine Kameraden tragen die Namen berühmter deutscher Schriftsteller und Dichter, seien da Klopstock, Seume, Büchner und Robert Walser, alles übrigens Literaten, die ihre Protagonisten auf Wanderungen geschickt und die Natur dadurch haben erfahren lassen.
August Zollinger verlässt das Bataillon wieder und lebt über ein Jahr als Eremit in den Wäldern und gibt sich dem einfachen Leben hin.
Es folgt die Arbeit eines Beamten, der tagtäglich für das Stempeln von Dokumenten zuständig ist. Er nimmt seine Arbeit ausgesprochen ernst, übt sich aber "im künstlerischen Gebrauch des Stempels", indem er versucht, im Takt von bekannten Melodien zu stempeln.
Als er im Büro nicht mehr vonnöten ist, fängt er als Lehrling im Schusterhandwerk an. Auch diese Arbeit liebt er und führt sie aus, bis er feststellt, dass "er seinen Traum verraten" hat". Das Druckerhandwerk kommt ihm wieder in den Sinn und er kehrt nach Romanshorn zurück und kann dort endlich nach sieben Jahren die Buchdruckerei übernehmen.
Es ist ein Roman mit einer Botschaft. Es geht um die Suche nach sich selbst, um den Reifeprozess und das Erkennen, was letztendlich wichtig ist, eigene Träume nicht aus den Augen zu verlieren, auch wenn der Weg weit ist.
Neben der Ernsthaftigkeit ist auch eine feine Ironie ob der Sonderlichkeiten des Protagonisten zu spüren. Pablo d'Ors gelingt diese Melange meisterlich.
Der Autor hat Germanistik, Theologie und Philosophie studiert und ist selber als Pilger auf der Suche nach geistiger Ruhe unterwegs gewesen: war in Santiago de Compostela, in der Saharawüste und im Nepal.

... das bewegte Herz

Der Protagonist August bewegt. Wie er sich für Begebenheiten öffnet und mit wie viel Sinnlichkeit er alles wahrnimmt. Er ist ein uriger, sympathischer Geselle mit manchmal kindlichen Zügen und seine Gedanken amüsieren bisweilen.

... ein Zitat

"Nie war er so vergnügt gewesen wie in der Schusterwerkstatt, die in sich alle Genüsse vereinte: den Klang, den Geruch, die Berührung ... Aber warum war er so zufrieden, wenn er letztlich , ungeachtet der Größe seines Ruhms, nichts war als ein Flickschuster? Dies war nicht sein Beruf- das wusste er -, und trotzdem fühlte er sich wohl inmitten seiner Schuhe (er hatte sich angewöhnt, sie als seine zu bezeichnen, obwohl sie ihm ja nicht gehörten). Er hatte sie liebgewonnen! Ja, Zuneigung für Schuhe, so seltsam es denen erscheinen mag, die nie Liebe zu den Dingen verspürt haben."

... die Sprache

Schöne, zu Herzen gehende Sprache. Sie klingt und gefällt, ist tiefsinnig ohne zu übertreiben. Signalwörter, die diese Wahrnehmung transportieren: Wechselspiel, Dialoge, Nachdenken, Freundschaft, Aufmerksamkeit, Herz, Gemüt, Seele, Sehnsucht, Ehrbarkeit ...